© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Tiefflieger
Kriegsende für einen Pimpf
Wolfgang Woschny

Den Tag X - das Kriegsende - erlebte ich als elfjähriger Junge in meiner Heimatstadt. Bei uns endete der Zweite Weltkrieg bereits einige Wochen vor dem 8. Mai mit der Besetzung durch die Amerikaner.

Am Nachmittag des 12. April 1945 gab es in der Stadt gegen 17 Uhr Feindalarm. Jeder von uns Pimpfen hatte von unseren Führern einen Kampfauftrag erteilt bekommen. Nach der Ausführung geriet ich in einen Tieffliegerangriff auf einen Eisenbahn-Flakzug mit zwei Vierlingsgeschützen. Die erste Maschine, die angriff, feuerte aus etwa zehn Metern Höhe auf den Zug und warf eine Bombe ab. Beide Flugabwehrgeschütze hatten zwar zurückgeschossen, aber die Maschine dabei nicht getroffen.

Ich hatte mich, als ich den angreifenden Tiefflieger sah, hinter einen Kastanienbaum gerettet. In das Bersten der abgeworfenen Bombe hinein dröhnte schwer das Aufeinanderschlagen von Metall. Dann gellte der grausige Schmerzensschrei eines Mannes durch die Luft.

Den nächsten Tiefflieger erwischte voll eine Feuergarbe der Flak. Die Hälfte der linken Tragfläche brach weg und knallte gegen das Leitwerk des Flugzeuges. Aus der Bruchstelle schlug ein Feuerball, der Jagdbomber drehte sich auf die Seite, schrammte mit der anderen Tragfläche das Dach eines Gleisstellwerkes und stürzte auf die dahinter liegenden Gleise.

Ich hatte mich unterdessen zitternd auf den Boden gepreßt und wartete ab. Die Schreie des Verwundeten hinter mir wurden schwächer. Vorsichtig sah ich mich um - und brüllte vor Entsetzen los: Das Waggon-Ende mit dem Vierlingsgeschütz ragte schräg in die Luft, und zwischen den Geschützrohren hing zuckend ein Flaksoldat. Im Nu hatte ich die Hose voll und war zunächst wie gelähmt. Dann wurde es still. Als ich mich nach aufgeregten Männerstimmen umdrehte, bemerkte ich zwei Flaksoldaten, die auf den Waggon geklettert waren und ihren toten Kameraden bargen.

Dann rannte ich los. Plötzlich schoß etwa hundert Meter vor mir ein greller Feuerpilz in den Himmel. Eine ohrenbetäubende Detonation folgte, und ein gewaltiger Luftdruck schleuderte mich gegen einen Zaun. Ich wurde bewußtlos.

Als ich endlich wieder zu mir kam, redete jemand auf mich ein. Aber ich verstand nichts, mir dröhnte es wahnsinnig in den Ohren, und ich sah alles wie durch einen Nebelschleier. Doch dann packte mich ein Mann am Arm, half mir beim Aufstehen und hieß mich schnellstens heimlaufen. Blutverschmiert wankte ich an der einige Minuten zuvor gesprengten Eisenbahnbrücke vorbei nach Hause und fiel meiner Mutter heulend in die Arme.

Am folgenden Morgen beschoß die amerikanische Artillerie eine verlassene deutsche Flakstellung auf der anderen Bergseite. Dann fuhren Panzer auf und feuerten in unseren Stadtteil hinein, obwohl aus allen Häusern weiße Fahnen hingen. Drei Gebäude fingen durch den Beschluß Feuer und brannten ab, doch niemand wurde verletzt. Einige Stunden später rollte Panzer um Panzer der Amerikaner mit aufgesessener Infanterie in Richtung Stadtmitte. Manchmal stoppten sie, und die Soldaten sahen sich furchtsam um. Hin und wieder fiel auch ein Schuß. Trotzdem hatten wir uns aus dem Haus gewagt und schauten furchtlos aus unserem Vorgarten dem Einmarsch der Amerikaner zu. Alle Soldaten kauten immerfort und, wie es schien, sehr angestrengt Kaugummi. Und wir sahen zum erstenmal leibhaftige Neger.

Auf den Kotflügeln einiger in Gegenrichtung vorbeifahrender Jeeps saßen gefangengenommene deutsche Soldaten. Sie mußten die Hände über dem Kopf verschränkt halten. Die Bewacher hielten sich mit schußbereitem Gewehr an der Windschutzscheibe fest. Für diese deutschen Soldaten und für uns war mit diesem Tag der Krieg zu Ende. 

Wolfgang Woschny, Stuttgart


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