© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Kontrast
Amerikaner und Russen in Erfurt
Gisela Spieß

Die letzten Kriegstage verlebte ich, 17jährig, in Erfurt. Die ständigen Fliegerangriffe waren zermürbend, und man lebte nur noch in ständiger Angst. Von meiner ältesten Schwester, die im Eichsfeld wohnte, gab es keine Nachricht mehr, und so machten wir uns zu Fuß auf nach Heyerode, ihrem Wohnort. Zwei Tage nach unserer Ankunft dort war der Krieg zu Ende. Die französischen Kriegsgefangenen waren frei, und da sie von den Deutschen gut behandelt worden waren, benahmen sie sich nun auch ihrerseits anständig. Die einrückenden Amerikaner waren in gleicher Weise anständig. Wenn sie abends kamen und nach "Fräulein" fragten, erklärte mein Vater, daß keine Fräulein da seien (wir waren drei Fräulein), und dann zogen sie ohne Widerrede wieder ab. Wahrscheinlich fanden sie anderswo willige Fräulein, jedenfalls kam es dort zu keiner einzigen Vergewaltigung. Auch sonst habe ich die Amerikaner nur als hilfsbereit und anständig kennengelernt, ihnen verdanke ich wirklich meine Freiheit.

Wie anders dann, als sie in Thüringen abzogen und die Russen einrückten. Wir lebten wieder in Erfurt, nun voller Angst. Nacht für Nacht gab es viele Dutzend Überfälle - man hörte Schüsse und Schreie und erfuhr von Vergewaltigungen. Einen schrecklichen "Trost" hatten wir: "Wenn es ganz schlimm wird - ich habe für uns alle Gift", waren die Worte meines Vaters. So sieht weiß Gott keine "Befreiung" aus. 

Gisela Spieß, Freiburg


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