© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

In der Festung Breslau
Vergewaltigung, Enteignung, Vertreibung
Ernst Lober

Bereits am 6. Mai 1945 erlebte ich als 17jähriger Breslauer Jäger den ersten Akt meiner "Befreiung" auf Grund einer Verwundung im Feldlazarett Brüderkloster in Breslau. Es war gleichzeitig der 45. Geburtstag meiner Mutter, die mit ihrer 82jährigen Schwiegermutter und meiner zehnjährigen Schwester am 19. Januar 1945 vor den heranrückenden Russen auf die Flucht gegangen war. Deren Schicksal war für mich ebenso ungewiß, wie das Schicksal meines Vaters, der damals als 49jähriger Major der Reserve zum zweiten Mal in seinem Leben Frontsoldat war.

Die in Breslau am 6. Mai 1945 ausgehandelte Kapitulationsurkunde hatte zwar eine Reihe schöner Formulierungen, aber diese erwiesen sich nur wenige Tage nach der Unterschrift durch die sowjetischen Generale Gludowski und Panow als wertlos. So lautet der Artikel 3: "Wir garantieren Ihnen, allen Offizieren und Soldaten, die den Widerstand eingestellt haben, das Leben, Ernährung, Belassung des persönlichen Eigentums und der Auszeichnungen und auch nach Beendigung des Krieges Heimkehr in die Heimat..." Der Festungskommandant General Hermann Niehoff erreichte, daß diese Bestimmung auch auf die in Breslau eingesetzten Soldaten der Waffen-SS ausgedehnt wurde. Weiter heißt es: "Der gesamten Zivilbevölkerung werden Sicherheit und normale Lebensbedingungen garantiert" (Artikel 5).

Bereits am 8. Mai wurde deutlich, daß die Sowjets nicht im Traum daran dachten, ihren Teil der Verpflichtungen einzuhalten. Die erste Befreiung von persönlichem Eigentum begann bereits am 8. Mai, dem offiziellen Tag der "Befreiung" und zum gleichen Termin setzten in Breslau die tausendfachen Übergriffe auf weibliche Kinder, Mädchen, Frauen und Greisinnen ein. Die Vergewaltigungen waren wochenlang an der Tagesordnung. Anfang Juni 1945 wurde ich, wegen der Auswirkung meiner Verwundungen und für die Sieger deshalb als billiger Zwangsarbeiter ungeeignet, in meine Heimatstadt Namslau, etwa sechzig Kilometer südöstlich von Breslau, entlassen. Auf dem Fußmarsch dorthin mußte ich die Enteignung des familiären Eigentums erleben. In Breslau-Hundfeld wurde ich von der Miliz am Betreten des Elternhauses meiner Mutter und in Bernstadt, zirka 15 Kilometer vor Namslau am Betreten des Elternhauses meines Vaters und der Mitnahme privater Dinge gehindert. In Namslau angekommen stellte ich daher beinahe mit großer Befriedigung fest, daß unser Haus bei den Kampfhandlungen zerstört worden war und den polnischen "Befreiern" keinen Gewinn mehr bringen sollte.

Es folgten die Wegnahme des letzten spärlichen Eigentums durch die Miliz und die wiederholte Festsetzung in einer Einrichtung der polnischen Sicherheitspolizei, die das von ihr betriebene Gefängnis stolz als "KZ für Deutsche" bezeichnete. Meine Befreiung daraus - die ich tatsächlich als solche empfand - hatte ich meinen russischen Entlassungspapieren und der Kontrolle der sowjetischen Kommandantur zu verdanken.

Im September 1945, nach der Flucht aus meiner Heimat, fand ich endlich meine Familie in Schleswig-Holstein wieder. Dort mußte ich in Ratzeburg nach einer Anzeige durch einen deutschen Nachkriegsfunktionär meine damals einzige Bekleidung, eine umgearbeitete Wehrmachtuniform, abliefern, weil sie einen "militärischen Eindruck" hinterließ. Dann wurde ich im Rahmen der sogenannten Entnazifizierung für lange Zeit von der Fortsetzung meines Schulbesuches zum Abitur und anschließendem Studium ausgeschlossen, weil ich bereits in jungen Jahren Pimpfenführer im Jungvolk war.

Später mußte ich ich im Kreis Schleswig-Flensburg erleben, daß man mir bei der Neuausstellung meines Reisepasses den bisher enthaltenen Hinweis, daß mein Geburtsort in Schlesien liegt, streichen wollte. Wenigstens gegen diesen Akt der Befreiung von der Erinnerung an die Heimat konnte ich mich erfolgreich wehren.

Karl-Ernst Lober, Fahrdorf

Foto: Ein befreiter polnischer Zwangsarbeiter umarmt einen amerikanischen Soldaten, Kalbe in Sachsen-Anhalt, April 1945


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