© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Schicksale im Abseits
Gefangene unter Stalin
Robert Korn

Wer heute von der systematischen Auslöschung der Zivilbevölkerung in Deutschland und in Österreich durch die gezielten alliierten Bombenangriffe spricht, denen mindestens eine halbe Million Zivilisten zum Opfer gefallen ist, oder von jenen, die nach dem 8. Mai in Konzentrationslagern ihr Leben lassen mußten,  läuft Gefahr, der Relativierung der NS-Verbrechen beschuldigt zu werden.

Zu solchen Tabuthemen gehört auch das Schicksal von Millionen Deutschen, die in die sowjetische oder alliierte Gefangenschaft gerieten und für die die Grausamkeit des Krieges mit der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 noch lange nicht zu Ende war. Der langjährige Abgeordnete zum Nationalrat Anton Bayr aus Niederösterreich stellt sich diesem Thema sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In seinem Buch "Vergessene Schicksale" beschreibt er anhand seines heimlich geführten Tagebuches seine über zwei Jahre währende Gefangenschaft in der Sowjetunion.

Der Verfasser, geboren 1927 in Zederhaus im Salzburger Land, wurde am 10. Mai 1945 als 17jähriger Soldat von den Tschechen gefangengenommen und an die Sowjets ausgeliefert. Es folgte eine mehrwöchige Fahrt in Viehwaggons in den Ural, eine der berüchtigtsten Strafregionen Stalins, wo er nunmehr unter unmenschlichsten Bedingungen Schwerstarbeit zu verrichten hatte, so wie es der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn in seinem "Archipel Gulag" beschrieben hat. Dort mußte Bayr als Holzfäller schuften, war Former in einer Ziegelfabrik, Bauhilfsarbeiter, belud Transportschiffe und plagte sich in einer Zellulosefabrik. Das Leben hinter Stacheldraht war geprägt durch primitivste Unterkünfte, unhygienische Verhältnisse, die sibirischen Winter mit bis zu fünfzig Grad Kälte und Hungerrationen, die kaum das Überleben ermöglichten.

Doch der Verfasser läßt es dabei nicht bewenden. Auch dem Unheil anderer Opfer des stalinistischen Terrorregimes gegenüber, denen er auf seinem Leidensweg begegnet ist, verhält er sich nicht gleichgültig. So wird beispielsweise das Los der wolgadeutschen Frauen beschrieben, deren Straflager unmittelbar an ein Kriegsgefangenenlager des Autors anschloß. Ebenso wie auf das bis 1956 fortdauernde Schicksal der Rußlanddeutschen schildert er jenes der Tschetschenen, Karatschaier, Inguschen, Balkaren, Kalmücken, Krimtataren.

Auch ehemalige Wlassow-Soldaten und Kosaken, die in der Wehrmacht gedient haben, bleiben nicht unerwähnt, sowie die 2,4 Millionen Soldaten der Roten Armee, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren und allein deshalb in den Augen der stalinistischen Justiz als Vaterlandsverräter in die Gulags verfrachtet wurden. "Er (der Soldat) hatte einen Zipfel europäischen Lebens gesehen und hätte darüber erzählen können. Und nicht jeder verstand sich darauf, vom 'unerträglichen schweren Leben in Europa' zu berichten. Eben aus diesem Grund, nicht einfach, weil sie sich gefangennehmen ließen, wurden die meisten Kriegsgefangenen vor Gericht gestellt. Und je mehr sie außer den deutschen Todeslagern vom Westen zu sehen bekommen hatten, desto sicherer wurden sie verurteilt", wird Solschenizyns Einschätzung hierzu zitiert. 

Nach 54 Jahren hat der Autor mit seinem Freund erneut die ehemaligen Verbannungsorte im Ural besucht. In seinem reich bebilderten Buch gelingt es ihm daher, die grauen Farben der Erinnerungen mit hoffnungsvollen, freundschaftlichen Begegnungen mit Menschen im heutigen Rußland zu einem Bild zu verknüpfen.

Anton Bayr: Vergessene Schicksale. Überlebenskampf in sowjetischen Lagern - ein Kriegsgefangener erinnert sich. Waldemar Weber Verlag, Augsburg 2005, 172 Seiten, kartoniert, 17 Euro


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