© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

Spannender geht's nicht!
Warum Schiller lesen?
Richard Stoltz

Manch besorgter Vater fragt sich in diesen "Schillertagen" seufzend: "Wie soll ich meinen (vierzehn-, fünfzehn-, sechzehnjährigen) Sprößling denn für Schiller interessieren? Der Junge spielt doch nur Videospiele, und wenn er liest, dann höchstens Schätzing und Dan Brown."

Nun, dem Manne kann geholfen werden. Er soll froh sein, daß sein Sprößling überhaupt liest. Und gar Dan Brown, Leonardo-Verschwörung, Geheimbündelei, Groß-Intrige! Wer so etwas geil findet, der findet auch Schillers "Verschwörung des Fiesco zu Genua" geil oder den "Don Carlos", er muß nur darauf hingewiesen werden. Gibt es denn einen raffinierteren Verschwörer als den Marquis Posa im "Don Carlos"? Er redet zwar in edlen Jamben, aber sein Talent für hochpolitische Intrigen wird dadurch ja nur um so augenfälliger.

Schiller war ein Krimi- und Stückeschreiber mit ausgesprochenem Sinn für Knalleffekte und scharfe Plots. Man gebe dem Sprößling zum Anwärmen mal den "Verbrecher aus verlorener Ehre" oder den "Geisterseher" oder die Ballade "Die Kraniche des Ibikus"! Spannender geht's doch gar nicht. Überhaupt die Balladen! Wer Schätzing mag, der mag bestimmt auch den "Taucher", schon um zu erfahren, wie die sich früher, als es noch keine Taucheranzüge und noch keine U-Boote mit Panoramafenster gab, den Betrieb am Korallenriff vorgestellt haben.

Und was ist mit dem "Lied von der Glocke", dem berühmtesten Gedicht, das je in deutscher Sprache geschrieben worden ist und das der Vater in der Schule noch hat auswendig lernen müssen? In der Klasse des Sprößlings wird darüber nur noch gespöttelt. Glockenguß: ein simpler Produktionsvorgang, eine Sache fürs technische Handbuch. Wie kann man darüber nur so viele Verse schreiben und mit so viel Pathos?

Aber nun stelle man sich einen Augenblick lang vor: Heutige Großdichter, Günter Grass etwa oder Hans Magnus Enzensberger, schreiben ein ähnliches Gedicht über einen technischen Vorgang von heute, etwa über die Eröffnung einer Chipfabrik in Dresden oder die Einrichtung einer neuen Taktstraße im Opelwerk Eisenach. Und sie kommen dabei, wie seinerzeit Schiller, vom Hundertsten ins Tausendste, ihr Opus weitet sich zum Panorama der Moderne, durchsetzt mit schneidender Zeitkritik, genau wie in der "Glocke"! Das gäbe ein Bohai in den Medien und in den Abiturklassen!

Ob Grass oder Enzensberger ihre Chipfabrik ebenso spektakulär hinkriegen würden wie Schiller seine Glocke, steht allerdings in den Sternen. Dieser Schiller war eben eine Singularität. Man sollte ihn unbedingt auch als Sechzehnjähriger zur Kenntnis nehmen, schon um ordentlich vergleichen zu lernen. Er ist nie langweilig, auch wenn er zu seiner Zeit, wie übrigens auch sein Klassiker-Kollege Goethe, weniger berühmt war und weit weniger gelesen wurde als etwa ein Mann namens Christian Vulpius, Verfasser des Räuberromans "Rinaldo Rinaldini".

Was in den Bestellerlisten steht, ist selten das Beste und zudem eine höchst verderbliche Ware. Auch das lernt man von Schiller.


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