© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/05 06. Mai 2005

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Anachronismus
Karl Heinzen

Peter Gauweiler ist mit seinem Versuch gescheitert, die Ratifizierung der Europäischen Verfassung durch den Deutschen Bundestag am 12. Mai auf dem Rechtsweg zu verhindern. Da sie normaler Bestandteil eines Gesetzgebungsverfahrens sei, habe er, so das Bundesverfassungsgericht, nicht die Befugnis, Klage in Karlsruhe zu erheben. Ein Gesetz, das erst zur Abstimmung ansteht und daher noch nicht existiert, könne ihn nicht in seinen Rechten verletzen. Die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde bestehe erst dann, wenn es Bundestag und Bundesrat passiert habe.

Dem Parlament sind nunmehr keine juristischen Fesseln angelegt, und es muß sich seine Tagesordnung auch nicht durch eine populistische Minderheit von Abgeordneten, die mit dem Feuer antieuropäischer Ressentiments spielen, kaputtmachen lassen. Die Hoffnung des Kanzlers, eine überwältigende Mehrheit des Bundestages für die EU-Verfassung könnte die Stimmung der Franzosen, die am 29. Mai in einem Plebiszit über diese Frage entscheiden, günstig beeinflussen, mag aufgehen. Die Zahl der Befürworter in unserem Nachbarland scheint wieder zu wachsen, die massierte Schützenhilfe wirkt sich aus. Wenn sich die Bürger denn schon nicht überzeugen lassen, so sind sie doch auch in Frankreich für die Einschüchterung empfänglich, sich durch ein Fehlverhalten unnötig in Europa zu isolieren.

Und dennoch ist es für eine gänzliche Entwarnung zu früh. Das Bundesverfassungsgericht hat Peter Gauweiler und seinesgleichen eine Hintertür geöffnet, durch die sie sehr wohl gehen könnten. Karlsruhe war schon in der Vergangenheit hin und wieder nicht um pedantische Kritik an der Verlagerung bestimmter Kernkompetenzen nach Brüssel verlegen und mag auch diesmal das Verlangen verspüren, die Ratifizierung der EU-Verfassung mit Auflagen zu versehen, die sie letztlich zugunsten einer anachronistischen Konservierung deutscher Nationalstaatlichkeit aushöhlen. Diese Mentalität kommt nicht von ungefähr: Die Richter sind Gefangene ihres eigenen Selbstverständnisses als Verfassungshüter. Buchstabengetreu wollen sie nicht allein die zeitlosen Werte des Grundgesetzes bewahren, sondern auch jenen unterdessen längst obsoleten Staat, für den es den Rahmen gibt. Dabei bemerken sie nicht einmal, wie paradox es ist, ausgerechnet mit dem Rückgriff auf die Volkssouveränität zu argumentieren: Das Grundgesetz wurde nicht formuliert, um diesem Prinzip in unserem Land zum Durchbruch zu verhelfen, sondern um die Menschheit vor seinem Mißbrauch durch Deutsche zu schützen. 


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen