© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/05 29. April 2005

Aus den Reservaten der Moderne
Jüngers Lektüren, vierter Teil der JF-Serie: Im Dialog mit dem britischen Schriftsteller Aldous Huxley
Alexander Pschera

Im Jahr 1932 erscheint Ernst Jüngers Untersuchung "Der Arbeiter" - ein Versuch, die sichtbaren Geschichtskräfte in einer Schwellensituation zu beschreiben, zu analysieren und fortzudenken. Jünger selbst schrieb 1963 im Vorwort zur Neuausgabe des "Arbeiters", das "Erscheinen des Buches kurz vor einer der großen Wenden (sei) nicht zufällig" - und zwar deswegen, weil zu diesem Zeitpunkt "an der Unhaltbarkeit des Alten und der Heraufkunft neuer Kräfte kein Zweifel mehr bestand".

Der "Arbeiter" stellt nach Jünger den Versuch dar, "einen Punkt (zu) gewinnen, von dem aus die Ereignisse in ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit nicht nur zu begreifen, sondern, obwohl gefährlich, auch zu begrüßen sind". Die Ereignisse, von denen Jünger hier spricht, sind "jenseits der Parteiungen" zu verstehen: Es sind die Strukturen der modernen, technisierten, mobilisierten Gesellschaft und ihre vielfältigen Erscheinungsformen, die Jünger erfaßt, ordnet und weiterdenkt - wobei die "mobile" Gesellschaft unserer Tage durchaus als Resultat jener "Mobilisierung" der Welt durch Technik und damit als Verifizierung einer zentralen These des "Arbeiters" gesehen werden kann.

Jünger sieht, was Huxley sieht, bewertet es aber nicht

Eine solche Erfassung und Ordnung moderner Strukturen leistet auch Aldous Huxleys Roman "Brave New World", der im selben Jahr wie der "Arbeiter" publiziert wird und diesem Datum ein weiteres Stück von seiner Zufälligkeit nimmt. Daß dieser Roman, obgleich in der Zukunft spielend, von der Gegenwart handelt, notiert Jünger am 29. Juli 1943 im "Zweiten Pariser Tagebuch": "An diesem Buche sieht man, daß alle Utopien im Grunde die eigene Zeit des Autors schildern - sie sind Spielarten unseres Wesens und zeichnen dessen Konsequenzen in einem Raum von bedeutender Schärfe, der sich Zukunft nennt. Die Utopien sind im allgemeinen optimistisch, da Zukunft und Hoffnung sich wesentlich verknüpfen; hier aber handelt es sich um eine pessimistische Utopie."

Huxleys scharf gezeichneter Roman wirft sein Licht aus einer imaginierten Zukunft zurück auf die Gegenwart. Jüngers überbelichtet dargestellte Wirklichkeit leuchtet, wenngleich unscharf, noch Teile der Zukunft aus, indem der "Arbeiter" erkennen läßt, was sich konturhaft jenseits der Schwelle, nach dem Übergang und der Ablösung, abzeichnet. Überspitzt könnte man formulieren: Huxley schreibt eine pessimistische "Utopie der Zukunft", Jünger formuliert eine affirmative "Utopie der Gegenwart".

In beiden Entwürfen spielt dabei das Konzept der Individualität und des Individuums eine zentrale Rolle. Bei Huxley wird dieses Konzept zum Kristallisationspunkt seines Pessimismus. In "Brave New World" gibt es keine Ausprägung von Individualiät mehr. Ein System von Konditionierung und Manipulation definiert Bedürfnisse, ein technokratisch-oligarchischer Staat sorgt für deren Befriedigung. "Schicksal" ist ein ebenso synthetisches Produkt wie "Liebe" und "Glück". Planung bedeutet Keimfreiheit: "Civilization is sterilization", lautet einer der Leitsprüche dieser Welt. Die Differenzen zwischen Ich und Du werden aufgehoben ("For I am you and you are I"), ebenso der Wille des Einzelnen und seine aus diesem Willen entspringende historische Perspektive ("Was and will make me ill"). Das Konzept der Individualität hat ausgedient - scheinbar. Denn auch in dieser gläsernen, durchorganisierten Welt bleibt ein unauflösbarer Rest von Melancholie. Wie ein Echo aus fernen Tagen schwingt in den Menschen ein letzter Impuls ihres Menschseins nach. Und um auch diesen Rest zu überwinden, verabreicht diese Welt ihren Bewohnern Drogen: "You need a gramme of soma", ist ein geflügeltes Wort in "Brave New World", oder: "I take a gramme and only am".

Pessimismus und Optimismus sind keine tragenden Kategorien für Jüngers "Arbeiter": "Noch einmal wollen wir uns hier erinnern, daß unsere Aufgabe im Sehen, nicht aber in der Wertung besteht", heißt es im 39. Kapitel. Jünger "sieht" also die Ablösung des bürgerlichen Individuums durch den Typus des Arbeiters, er bewertet sie nicht. Er liest die Transformation von Individualität ab an Eigenschaften, die auch Huxleys Romanwelt charakterisieren. Jünger registriert die Gleichförmigkeit der Individuen, die "maskenhafte Starrheit des Gesichtes". Er notiert die Uniformierung der Kleiderwelt, die die Herausbildung des Typus unterstützt und die bei Huxley als Allgegenwart der Reißverschlußanzüge, der "Zippers", erscheint. Auch Haltung und Gestik der Menschen fallen aus der hergebrachten Ordnung, werden zusammenhanglos, unharmonisch, zwielichtig. Das Theater und seine ständisch geprägte Harmonie, so zeichnet Jünger auf, der klassische Roman und das einmalige Erlebnis, das er verbürgt, treten hinter die Allgegenwart und Allgemeinheit des Lichtspiels zurück, in dem der Filmschauspieler einen Typus verkörpert. Bei Huxley sind es nicht mehr die "Movies", sondern die "Feelies", die die Massen anziehen und sie mit fremden, künstlichen Gefühlen versorgen. In allen Bereichen von Gesellschaft und Staat werden die Räume des Individuums eingeschmolzen, seine gesellschaftlichen Setzungen, wie sie sich in Ständen und Zünften ausprägen, die sich wiederum in äußeren Zeichen als solche zu erkennen geben, werden abgeschliffen. Was bleibt, ist eine uniforme Masse, die in immer mächtigeren Strömen an immer dieselben Orte und Plätze drängt, dabei aber eine ungeahnte Energie entwickelt.

Ein Anarchist mit konservativen Erinnerungen

Jüngers Blick, der auf die Wirklichkeit gerichtet ist und in ihr den Kulminationspunkt einer historischen Entwicklung sieht, sucht im "Arbeiter" nichts von den Werten des Individualismus zu retten. Im Gegenteil: Der Entfaltung jener Energie der Arbeitswelt, der "Erprobung und Härtung der Planlandschaften", die dem "Eintritt in den imperialen Raum vorausgehen", sieht er äußerst fasziniert zu.

Über Huxleys entgegengesetzte, moralisch fundierte Haltung notiert Jünger am 15. September 1943 während der Lektüre des Romans "Point Counter Point": "Es handelt sich bei ihm um einen Anarchisten mit konservativen Erinnerungen, der gegen den Nihilismus in Stellung geht" - und damit auch gegen den Kern des "Arbeiters", auf den "Brave New World" kontrapunktisch bezogen ist.

Dieser Dialog zwischen den beiden Autoren, die im Jahr 1932 aus unterschiedlichen Perspektiven das gleiche Geschehen in den Blick nehmen, setzt sich nun Jahrzehnte später auf überraschende Weise fort - und zwar in den beiden Drogen-Büchern "Doors of Perception" (1954) und "Annäherungen. Drogen und Rausch" (1970).

Von "Brave New World" führt ein direkter Weg zu den "Pforten der Wahrnehmung": Huxley deutet in diesem Essay an, daß die psycho-soziale Konditionierung, der wir unterworfen sind, die Wahrnehmung dessen, was "ist", stark reduziert und einengt. Wir leben mitten in der "schönen neuen Welt" und sind nicht mehr in der Lage, einen Gegenstand als solchen wahrzunehmen, sondern nur noch seine Abstraktion, seine Funktion, seinen Nutzen. In der Wahrnehmung trennen wir das Nützliche vom Unnützen und versetzen uns dadurch in die Lage, schnell zu handeln, Entscheidungen zu treffen, zu überleben. Die Entfernung vom Realen, von dem, was Meister Eckart "Istigkeit" nennt, wird immer größer.

Huxleys Dystopie hat ihren Autor eingeholt

Die Droge, das Meskalin in diesem Fall, hebt diese Konditionierung zeitweise auf und läßt uns die Dinge so sehen, wie sie an sich sind: klar, absichtslos, schön. Kunst ist ein Zustand, wie Huxley in seiner Reflexion über die Unendlichkeit der Gewandfalten bei alten Meistern zeigt, der der Öffnung der Pforten nahekommt, sie aber nicht erreicht. Die Rettung der vollen mystischen Erfahrung und damit die Rettung der ganzen Möglichkeiten des Individuums in der Moderne ist nur über die geregelte Einnahme von Meskalin möglich - so Huxleys These, die er als reale, gesellschaftliche Forderung verstanden wissen will: "Take a gramme of soma" - dieser Satz aus "Brave New World" klingt hier auf verstörende Weise nach. So läßt sich Huxleys Essay deuten als Rechtfertigung genau jener Schließung der Melancholie-Lücke im gläsernen Gewebe der Welt aus dem utopischen Roman von 1932. Die "Brave New World" hat ihren Autor eingeholt.

Jüngers "Annäherungen" hingegen stellen den äußersten Gegenpol zum "Arbeiter" dar. Sie sind ein Report aus dem Reservat, das die Moderne dem Individualismus zugewiesen hat, und halten eindeutig fest, daß sich aus individuellen "Annäherungen" keine gesellschaftliche Handlungsmaxime ableiten läßt. Jünger bewahrt die Freiheit individuellen Handelns vor ihrer ideologischen Inanspruchnahme. Er erkennt, daß Freiheit sich nicht postulierend, sondern nur handelnd verwirklichen läßt.

Der Dialog der Autoren formt so eine beziehungsreiche Figur: Jünger zieht die Konsequenzen aus der "Brave New World", während Huxleys Versuch, das individuelle Erleben typifizierend zu überhöhen, die Prognose einlöst, die der "Arbeiter" 1932 formulierte.

Aldous Huxley (1894-1963): Die Rettung der mystischen Erfahrung schien ihm nur mit Meskalin möglich

 

Dr. Alexander Pschera ist Germanist und arbeitet derzeit an mehreren Ernst-Jünger-Projekten. In der ersten Folge dieser Serie ging es um Hermann Löns (JF 05/05), im zweiten Teil um Léon Bloy (JF 09/05), im dritten um Franz Kafka (JF 14/05).

Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk - von den "Stahlgewittern" bis zu "Siebzig verweht V". Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also "Spuren-Lesen". Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.


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