© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/05 29. April 2005

Ein Wahlrecht für die Großen
Großbritannien: Premier Blair verliert an Vertrauen und gewinnt doch die Wahl / Liberaldemokraten hoffen auf Achtungserfolg
Sigrun Saunderson

Irak-Krieg, steigende Kriminalität und unüberschaubare Einwanderungs-zahlen können Tony Blair, der seit 1997 Premierminister ist, nicht aus der Fassung bringen. Seit sich die ansonsten eher den Tories nahestehende einflußreiche Boulevardzeitung The Sun und letzten Sonntag per Videoschaltung sogar Bill Clinton auf seine Seite gestellt haben, zweifelt niemand mehr an Blairs drittem Wahlsieg am 5. Mai. Allerdings nicht aufgrund des Vertrauens, das der britische Wähler dem "Meister des Spin" entgegenbrächte, sondern wohl eher mangels einer realistischen Alternative.

"Die Kriminalität ist außer Kontrolle geraten"

Als Labour mit Blairs Übernahme der Parteiführung einen Riesenschritt zur politischen Mitte machte, blieb der konservativen Oppositionspartei der Tories wenig Raum, sich von Labour abzugrenzen, ohne wesentlich nach rechts zu rücken. Tory-Führer Michael Howard konzentriert sich dementsprechend in seiner Kampagne auf die Themen "Tough on Crime" und die Immigranten-Problematik. Aussagen wie "Einwanderer sollten Gesundheitstests unterzogen werden" und "Die Kriminalität ist außer Kontrolle geraten", machen es Tony Blair leicht, Howard als Rechtsaußen darzustellen, der mit Angstmacherei auf Stimmenfang geht.

Blair selbst spricht lieber über die Labour-Erfolgsthemen Wirtschaft, Steuerpolitik und Sozialleistungen. "Unsere Steuern sind niedriger als der europäische Durchschnitt und niedriger als unter Thatcher", betont der 51jährige und verspricht, die Einkommensteuer auch in der nächsten Regierungsperiode nicht zu erhöhen.

Wenn es um Blairs Versprechungen geht, zeichnen ihm die gegnerischen Parteien allerdings eine lange Nase, die mit jeder Lüge weiter wächst. Unter dem Motto "Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht" verwenden die Konservativen einen Großteil ihres Wahlkampfes darauf, Blairs Integrität zu untergraben und seinen Charakter anzuzweifeln. Besonders die Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Irak-Krieges kostete Blair Sympathien und Vertrauen. Konservative und Liberaldemokraten beschuldigen den von linken Zeitungen als "Bushs Pudel" titulierten Premierminister, das britische Volk durch Lügen in diesen Krieg gehetzt zu haben.

Die oppositionellen Liberaldemokraten haben aber nicht nur in der Irak-Frage einen Großteil der öffentlichen Meinung auf ihrer Seite. Sie konnten das Vakuum, das Labour "links" hinterließ, mit sozialen Themen füllen. Parteichef Charles Kennedy verspricht als "wahre Opposition" Einkommensteuererhöhung für "die Reichen", mehr Unterstützung für Rentner und eine Abschaffung der horrenden Studiengebühren (JF 07/04). Doch Kennedy als zu weich eingeschätzt, als daß er den Anforderungen an einen britischen Regierungschef entsprechen könnte. Ihm fehle der "Killer-Instinkt". Trotz des massiven Vertrauensverlustes Blairs sagen Wahlprognosen einen Labour-Sieg mit 39 bis 41 Prozent der Stimmen voraus. Die Unterstützung der Konservativen stagniert ähnlich wie in den letzten Wahlen bei 32 Prozent.

Nur die Liberaldemokraten verzeichnen stetigen Zuwachs und liegen mit 22 Prozent um vier Prozentpunkte über ihrem letzten Wahlergebnis. Was in anderen Ländern eine Koalition erforderlich machte, wird in Großbritannien wohl wieder zu einer Labour-Mehrheit führen, der sogar bis zu 61 Prozent der Abgeordnetensitze vorausgesagt werden.

Blair hilft die Absurdität des britischen Wahlsystems

Diese Absurdität kommt aufgrund des britischen Wahlsystems zustande, das die Stimmergebnisse zugunsten der großen Parteien verzerrt. Da es - im Gegensatz zu Frankreich etwa - nur einen Wahlgang gibt und jeder der 646 Wahlkreise nur einen Abgeordneten ins Parlament schicken kann, gewinnt automatisch der Kandidat mit den relativ meisten Stimmen den Parlamentssitz für seinen Wahlkreis. So kann ein Labour-Abgeordneter auch mit nur 30 Prozent der Stimmen eines Wahlkreises ins Parlament einziehen, wenn sich die restlichen Stimmen auf mehrere andere Parteien aufteilen. Diese 70 Prozent der Wähler jenes Wahlkreises werden im neuen Unterhaus schlicht ignoriert. Nicht einmal einen Ausgleich über Proporzlisten - wie 25 Prozent der Sitze im italienischen Parlament - gibt es.

Die Partei, die wohl am deutlichsten unter diesem "perversen Wahlsystem" leidet, sind die Liberaldemokraten. Auch wenn sie die vorausgesagten 22 Prozent der Wählerstimmen bekommen, werden sie wahrscheinlich weniger als neun Prozent der Unterhaussitze einnehmen. Eine Aussicht, die viele überzeugte LibDem-Anhänger frustriert und zum taktischen Wählen verleitet, nur um einen Sieg der Tories zu verhindern.

Ein Szenario, auf das Blair hofft: "Wenn Sie zu Hause bleiben oder die Liberaldemokraten wählen, kann es passieren, daß Sie mit Michael Howard als Premierminister aufwachen", warnt die Labour-Propaganda. Auf der rechten Seite könnten die Tories Nutznießer des Wahlrechts werden: Viele Briten, die der EU-kritischen UKIP (Seite 3) bei der Europawahl zu einem Achtungserfolg verhalfen oder bei Kommunalwahlen die rechte British National Party (BNP) wählten, werden wohl für die Tories stimmen oder zu Hause bleiben.

Chancen haben allenfalls Einzelkandidaten wie der Ex-Labour-Abgeordnete George Galloway, der von der Anti-Irakkriegs-Koalition "Respect" im Londoner Wahlkreis Bethnal Green and Bow unterstützt wird, oder die Community Action Party (CAP) in der nordenglischen Bergarbeiterstadt Wigan.


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