© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/05 29. April 2005

PRO&CONTRA
Mindestlohn einführen?
Jörg Most / Wilhelm Hanke

Deutschland ist ein Hochlohnland, heißt es. Aber auch hier gibt es ausgesprochen niedrig bezahlte Arbeit und das in rasant anwachsender Zahl.

Die Armutsforschung unterscheidet zwischen prekären Entgelten und Armutslöhnen. Prekäre Löhne sind Einkommen, mit denen das private Auskommen schwierig ist. Armutslöhne (Arbeit in Armut) sind Löhne, die den Ausschluß von einer angemessenen Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben zur Folge haben. Inzwischen müssen ca. 25 Prozent (7,7 Millionen) der Vollzeitbeschäftigten für prekäre Löhne und ca. 12 Prozent (2,5 Millionen) der Vollzeitbeschäftigten für Armutslöhne arbeiten. Hinzu kommt die wachsende Zahl von Zeitarbeitern, Teilzeitarbeitern und Minijobbern. Wie kann man sich vor diesem Schicksal schützen? Spätestens als Arbeitsloser nicht mehr. Arbeitslose werden nach den neuen Zumutbarkeitsregeln systematisch in den Niedriglohnbereich gedrängt. Von der Ausübung einer Vollzeittätigkeit kann man erwarten, daß sie eine existenzsichernde Vergütung garantiert. Vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollen ein Mindesteinkommen erhalten, das es ihnen ermöglicht, am sozialen sowie kulturellen Leben teilzunehmen und ihren Lebensunterhalt ohne Armut zu bestreiten. Dieser ethnische Grundsatz leitet sich aus dem Grundgesetz ab und ist das Ergebnis des Sozialstaatsprinzips und das Prinzip der menschlichen Würde. In vielen Ländern der Europäischen Gemeinschaft gibt es gesetzlichen Mindestlöhne. Die Art und Weise der Festsetzung reicht von der Beteiligung der Verbände bis zur Dynamisierung auf Basis volkswirtschaftlicher Kennzahlen. Die Bundesrepublik nimmt in dieser Frage zur Zeit einen Sonderstatus ein. Der Mindestlohn ist ein geeignetes Schutzinstrument für die Beschäftigten, gerade in Zeiten stürmischer Globalisierung.

 

Jörg Most ist Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten der Region Leipzig-Halle-Dessau.

 

 

Vom Mindestlohn gilt der Satz: "Gut gemeint reicht nicht aus", nicht einmal als Entschuldigung. Denn so "sozial" das Etikett aussieht, die absehbaren Folgen bewirken das Gegenteil. Dem tarifvertraglich geregelten Arbeitsmarkt wird eine Lohnuntergrenze verordnet. De facto dürfte sie sich in kürzester Zeit als ihr Gegenteil herausstellen: als eine sich ausbreitende Lohnobergrenze. Warum sollten Arbeitgeber auf gewerkschaftliche Lohnforderungen eingehen, wenn sie auch zu gesetzlichen Tarifen abschließen können? Was vor dem Lohndumping der EU-Billiglohnländer schützen sollte, wirkt geradezu als Einladung auf dortige Arbeitnehmer. Denn deutsche Mindestlöhne inklusive Sozialschutz dürften noch um ein Erkleckliches über den Arbeits- und Arbeitsloseneinkommen in deren Ländern liegen.

Wer immer schon einen freien, in Wahrheit aber von der Arbeitgeberseite abhängigen Arbeitsmarkt wollte - hier hat er den Hebel. Die Gewerkschaften können ihre Selbstauflösung beantragen, die Tarifautonomie als vom Verfassungsgericht anerkanntes Recht der Gleichwertigkeit von Arbeit und Kapital kann abgeschrieben werden. Auch der vom Tarifvertrag befreite Arbeitsmarkt der Billig-Jobs gerät in Bedrängnis. Warum sollen Arbeitgeber ihren Kurz- und Teilzeitarbeitnehmern künftig mehr zahlen als den Mindestlohn?

Weder wird mit diesem Schritt die Massenarbeitslosigkeit bekämpft; denn wer neu eingestellt wird, verdrängt in aller Regel einen anderen aus dessen Job, nur daß er jetzt weniger kostet. Noch führt er zur Kostenentlastung - denn es werden Einkommen vernichtet, die als Kaufkraft fehlen. Die Krise hält an. Am wenigsten aber wird dabei der Sozialstaat saniert, denn bei sinkenden Löhnen eskalieren die Defizite, statt sich zu schließen. Eine Bundesregierung, die so etwas plant, erklärt sich schon jetzt zum Verlierer der nächsten Wahlen.

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel lehrt Währungs- und Entwicklungspolitik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.


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