© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/05 15. April 2005

Elf Feinde müßt ihr sein
Neu auf DVD: Nick Loves "The Football Factory" erzählt aus dem Londoner Hooligan-Milieu
Michael Insel

Er geht auf die Dreißig zu, hat einen öden Job und ein Hobby, dem er am Wochenende mit seinen Kumpeln frönt: ein Durchschnittsmann? Man möchte es nicht hoffen, denn neben wäßrigem Bier, Drogen und lieblosem Sex zählt Tommy, Protagonist und Ich-Erzähler des jüngst auf DVD erschienenen Spielfilms "The Football Factory", auch blutige Prügeleien zu seinem Freizeitprogramm.

"König Fußball" war von Kindesbeinen an ein Raufbold. Das in seinem englischen Mutterland als hooliganism bezeichnete Rowdytum im und um das Fußballstadion hat eine lange und illustre Tradition. Die Wurzeln des Fußballs, wie wir ihn heute kennen, reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück, als benachbarte Städte und Dörfer Dispute beilegten, indem Gruppen junger Männer aufeinander losgingen und mit einer aufgeblasenen Schweinsblase auf eine Kirchentür zu schießen versuchten. Der Ball war ein obligatorisches, wenn auch eher nebensächliches Element dieser Begegnungen, die ansonsten kaum Regeln kannten. Nicht selten blieben ernsthaft Verletzte oder gar Tote auf dem Spielfeld zurück.

Im Laufe der nächsten Jahrhunderte wurde das Spiel zunehmend zahmer, bis im 19. Jahrhundert zwecks endgültiger Imagebereinigung des Sports ein umfassendes Regelwerk eingeführt wurde. Damit verlagerte sich die Gewalt endgültig auf die Tribünen. Tätliche Angriffe auf Schiedsrichter, Fans oder Spieler der gegnerischen Mannschaft waren nichts Ungewöhnliches. 1909 kam es bei einem Spiel zwischen den schottischen Mannschaften Glasgow Rangers und Celtic zu Ausschreitungen, an denen sich sechstausend Zuschauer beteiligten, 54 Polizisten verletzten, das Stadion auseinandernahmen und umliegende Gebäude beschädigten: Alles nur, weil die Fans beider Seiten sich mit einem Unentschieden nicht zufriedengeben wollten und ihnen die geforderte Verlängerung verweigert wurde. In der Zwischenkriegszeit ließen die Unruhen nach, und in den fünfziger Jahren erlangte der Fußball eine neue Respektabilität, die sich als Ruhe vor dem Sturm der 1960er erweisen sollte.

König Fußball war schon in Kindertagen ein Raufbold

Damals begannen die Fans sich in Banden zu organisieren, die die Blöcke hinter den Toren zu ihrem Territorium erklärten. Horden rivalisierender Fans stürmten regelmäßig aufs Spielfeld und lieferten sich Massenschlachten, die erst endeten, wenn die Polizei eingriff. Anfang der achtziger Jahre gipfelte diese allgegenwärtige Gewalt im Aufkommen der "Superhooligans": gutgekleidete, respektabel wirkende Männer Ende der Zwanzig oder älter - Familienväter, Hausbesitzer, Karrieretypen -, die samstagnachmittags weder das Auto wuschen noch den Rasen mähten, sondern straff durchorganisierte Prügeleien mit anderen "Firmen" veranstalteten.

Die Firmen nannten sich "Service Crew" (Leeds United), "Nutty Crew" (FC Liverpool), "Gooners" (Arsenal), "Red Devils" (Manchester United), "Baby Squad" (Leicester City), "Headhunters" (Chelsea) oder "Inter City Firm" (West Ham United). Medien wie Soziologen stürzten sich dankbar auf das Phänomen: ein Thema, das buchstäblich auf der Straße lag. Oder doch in den Stammkneipen, wo die "dritte Halbzeit" mit derselben Sorgfalt geplant wurde, die der Trainer der jeweiligen Mannschaft auf die Spielvorbereitung verwenden mochte.

Dafür, daß die Eskalationen nicht am Ärmelkanal haltmachten, wurden 1985 die Falschen bestraft - nämlich die Spieler, die sich auf dem Rasen einen mehr oder weniger sportlichen Kampf liefern, sowie ihre friedfertigeren Fans, denen ein paar Dosen Bier und eine neunzigminütige Zitterpartie genügen, um den Adrenalinspiegel zu regenerieren: Englische Mannschaften wurden für fünf Jahre von internationalen Pokalwettbewerben ausgeschlossen, nachdem randalierende Liverpool-Fans, darunter Mitglieder der "Nutty Crew", beim Europapokalfinale gegen Juventus Turin eine Mauer im Brüsseler Heysel-Stadion zum Einsturz gebracht hatten. In der Massenpanik kamen 39 Menschen ums Leben.

Bis heute werden insbesondere vor Auswärtsspielen der Nationalelf strenge Ausreisekontrollen an Flug- und Fährhäfen vollzogen - Anlässe, zu denen Firmen, die einander sonst bis aufs Blut bekämpfen, Zweckgemeinschaften bilden, um gegen ähnliche Phalanxen anderer Länder anzutreten.

Bereits 1988 bannte Alan Clarke diese mit Brutalität und Hysterie aufgeladene Atmosphäre in seinem Fernsehfilm "The Firm" für die BBC auf Zelluloid. Gary Oldman spielt Bexy, einen redegewandten Immobilienmakler, der geradezu süchtig ist nach dem Nervenkitzel, den ihm die wöchentlichen Prügeleien verschaffen. Echte Mitglieder der Inter City Firm standen der Filmcrew als Statisten und Experten mit Rat und Tat zur Seite. Zusammen mit der Dokumentation "Hooligans" diente "The Firm" als Matrize für eine Reihe von Filmen, die sich mit dieser Szene befaßten, ohne der Panikmache der Boulevardpresse zu verfallen.

In dieser Tradition steht auch "The Football Factory", der zweite Spielfilm des jungen Londoner Regisseurs Nick Love. Tommy Johnson (Danny Dyer) und seine Freunde, der Drogenhändler und bekennende Rassist Billy (Frank Harper), der Schürzenjäger Rod (Neil Maskell) und Zeberdee, der Jüngste im Bunde, Speed-Freak und Kleinkrimineller, gehören einer fiktiven "Firma" von Chelsea-Fans an.

Die wöchentlichen Zusammenstöße mit anderen Firmen liefern dem Film seine Struktur. Die mit Technoklängen unterlegten Kampfszenen (wiederum mit waschechten Hooligans in Nebenrollen) sind in graphischem Detail gefilmt, mal in brutaler Nahaufnahme, mal mit langen Kameraschwenks, die etwas vom kollektiven Rausch dieses macho-masochistischen Rituals spüren lassen. Den Höhepunkt bildet ein äußerst blutiger und realistischer Showdown mit dem Erzrivalen Millwall.

Längst ist das Problem keine "englische Krankheit" mehr

Zugleich dient der Kunstgriff einer engen Beziehung zwischen Tommy und seinem Großvater Bill (Dudley Sutton) dem Regisseur dazu, diese Gewaltkultur aus einer anderen Perspektive und einer kritischen Distanz zu beleuchten. Bill hält nicht viel von Tommys Kumpeln - schließlich sei er einst gegen ihresgleichen und ihre "faschistischen Auffassungen" in den Krieg gezogen, nur damit jetzt Halbstarke wie sie auf der Straße das Sagen hätten.

Daß Love sich jedes moralischen Urteils enthält, ist löblich, macht "The Football Factory" jedoch zu einem Heimkinovergnügen der härteren Art: Nicht umsonst wird von seiten der Kritiker wie der Verleihfirma der Vergleich mit Danny Boyles Kultfilm "Trainspotting" bemüht. Der deftige Londoner Dialekt ist im Original gewöhnungsbedürftig und in der deutschen Synchronisation teilweise recht gestelzt - doch zum Glück bietet das DVD-Format als dritte Variante deutsche Untertitel an.

Als John Kings gleichnamiger Roman, auf dem das Drehbuch beruht, 1996 erschien, war die Medienhysterie bereits im Abklingen und die Superhooligans selbst von der Bildfläche oder zumindest den Bildschirmen verschwunden. Englische Fußballfans werden ihr Vermächtnis so schnell nicht abschütteln - innerhalb von vier Jahren hatten sie den Schlachtenbummler zu Hause und im Ausland in Verruf gebracht.

Inzwischen haben die Firmen gelernt, das Schlaglicht der Öffentlichkeit zu meiden, um ihre Rivalitäten von der Polizei ungestört austragen zu können. Mit Hilfe von Internet und Mobilfunk reizen sie einander bis zur Weißglut und verabreden Schauplatz und Anpfiffzeit für die Kämpfe, die heute abseits der Stadien stattfinden.

Erst kürzlich meldete die Presse den Rücktritt des angesehenen schwedischen Schiedsrichters Anders Frisk, der diese dramatische Entscheidung traf, nachdem er Todesdrohungen von Chelsea-Fans erhalten hatte, weil er deren Stürmer Didier Drogba beim Champions-League-Spiel gegen den FC Barcelona im Februar einen Platzverweis erteilte. Daß das Problem jedoch längst keine "englische Krankheit" mehr ist, sondern ganz Europa befallen hat, zeigten vor drei Wochen wieder die Ausschreitungen beim Länderspiel zwischen Deutschland und Slowenien.

Der König wird wohl auch in reiferen Jahren ein Raufbold bleiben - zumindest, wenn es nach der gewaltbereiten Minderheit geht, die den Ruf eines Sports beschädigt, den sie doch zu lieben behauptet. 

Foto: Masochistische Rituale: In der "Football Factory" wird samstags weder Auto gewaschen noch Rasen gemäht

"The Football Factory" (2004) - jetzt im Verleih, ab 10. Mai 2005 auch im Handel erhältlich (Vertrieb: Kinowelt Home Entertainment). Die DVD ist freigegeben ab 16 Jahren und enthält unter anderem folgendes Bonus-Material: Making of, unveröffentlichte Szenen, Audiokommentar von Nick Love und Danny Dyer; einen Kurzfilm von Nick Love, Musikvideo "Fit But You Know It" von The Streets.


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