© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/05 15. April 2005

Sehnsucht nach Leitbildern
Popestar oder Stellvertreter Christi: Die Pilgermassen in Rom sind ein soziologisches Wunder
Ellen Kositza

Die Tage der Trauerfeierlichkeiten um den Tod Johannes Pauls II. glichen einem Wunder, einem weltlichen, sozialkundlichen zumal: Die Welt hat summarisch - moderner Infrastruktur sei Dank - kein größeres Begräbnis erlebt, und es war, alles in allem, ein würdiger Abschied, der dem katholischen Oberhirten bereitet wurde. Gerade die Jugend der Welt, so schien es, drückte mit ihrer überwältigenden Präsenz ein ergreifendes, ungeahntes Bedürfnis nach christlicher Führung, religiöser Substanz aus.

Die Fernsehkameras konnten sich kaum satt sehen an hübschen polnischen Mädchen, die versunken ihren Rosenkranz beteten und dabei die Tränen auf den rosigen Wangen abzuwischen vergaßen, an modisch gekleideten Jugendlichen aus aller Welt, die sprachübergreifend christliche Choräle anstimmten, an Pilgerguppen, die, oft eingehüllt in den Fahnenstoff ihrer Nationalflagge, kühle Nachtstunden sitzend ausharrten.

Wie ist die bereits aufgrund der Masse der Trauergäste und Pilger überwältigende Verabschiedung des Verstorbenen zu begreifen? Es ist klar, daß viele gekommen sind, weil schon so viele gekommen sind - ein wohlbekannter Effekt jeglicher Massenphänomene. Natürlich besaß der Massenauflauf in Rom auch Event-Charakter (das Wortspiel "Popestar" kündet davon). Wer behauptet, allein ein vielstündiges Anstehen in der Warteschlange beweise wahre Gläubigkeit, hat noch nie die dürftigen Nachtlager auf hartem Asphalt gesehen, die sich Fans modischer Musikgruppen errichten, um 24 Stunden später in erster Reihe ihrem Pop-Idol zujubeln zu dürfen.

So dürfte auch das per Mobiltelefon geknipste Bild des aufgebahrten Johannes Paul II., trotz Verbots - von der offensichtlichen Unschicklichkeit ganz zu schweigen - tausendfach aufgenommen und verschickt, die moderne Ikonographie um den Papst kennzeichnen: Ein Idol ist gestorben - ich war dabei!

Wer weint, hat immer recht, sagt das moderne Volkslied, und auch darüber hinaus verbietet es sich zu hinterfragen, ob die Sturzbäche der auf dem Petersplatz geweinten Tränen der Sorge um das himmlische Heil des Verstorbenen oder einer allgemeineren Sehnsucht nach ultimativer Ergriffenheit entsprangen. Die seelische Befindlichkeit Einzelner in der gigantischen Trauergesellschaft ist unmöglich zu ergründen. Doch als was läßt sich die unwiderlegbar spirituelle Ergriffenheit der Pilger fassen, vor allem die der Hunderttausenden Jugendlichen unter ihnen? Ist es fromme Anbetung oder bloß religiös verbrämte Hysterie, wie sie auch andere charismatische Erscheinungen gerade des vergangenen Jahrhunderts hervorriefen? Hier an den neu wieder aufkeimenden Kult um Lady Di zu erinnern, ist keine Blasphemie, sondern eine soziologische Parallele: Der in unserer durchrationalisierten Welt immer stärker sich meldende Hunger nach Idolen, nach Mystik, nach Ritual, nach Gültigkeit bündelt sich hier wie dort.

Wahre veneratio, die anbetende Verehrung, verlangt nun keine theologisch- wissenschaftlichen Kenntnisse. Wer je die alltäglich lange auf Einlaß wartende Menge Gläubiger vor dem Paulinerkloster in Tschenstochau am Bildnis der Schwarzen Maria Mutter Gottes hat weinen und hernach vor der Ikone reihenweise zusammenbrechen sehen, all die Greise und jungen Bauernmädchen, weiß, daß Glaubenserfahrungen nicht der Durchdringung mit dem Intellekt bedürfen. Er ahnt zugleich, daß manchem Volkscharakter fromme Gläubigkeit zugrunde liegt - so feierten die knapp zwei Millionen nach Rom gereisten Polen eben nicht den einzigen Popstar, den ihr Land hervorgebracht hat, wie es Medienberichte mit weltläufiger Gehässigkeit nahelegten, sondern den Hüter einer Tradition, den geistlichen Halt in der Welt.

Die allseits vorgebrachten Argumente, die Masse der vor dem Petersdom versammelten Jugendlichen habe selbstverständlich die Antibabypille in der Tasche, kümmerte sich wenig um das Kondomverbot oder um sonstige Pfeiler katholischer Morallehre, sind jedoch bedenkenswert. Echte veneratio würde bedeuten, mit Johannes Paul II. den Nachfolger Petri, den irdischen Stellvertreter Christi zu beweinen und damit die katholische Kirche - eben auch die vielgescholtene, längst zum Klischee einer starren Institution diskreditierte Amtskirche - als Stiftung Christi und Garant der Wahrheit zu bejahen. Gott kennt kein Wenn-und-aber, seine Kirche ist kein Plauderforum, sondern Säule und Grundfeste der Wahrheit. Das mag denjenigen entgangen sein, die den Mikrofonen so euphorisch wie brav die unendliche Toleranz und die globalen, banalen Wünschbarkeiten von Friede, Freude und interreligiöser Zusammenarbeit als Erbe des Papstes referierten.

"Er lehrte uns vor allem, den Glauben anderer zu respektieren", drückte eine Deutsche vielsagend die von ihr als am wichtigsten empfundene Lebensbotschaft des Pontifex aus. Jene fahnenschwenkenden, "Heiligsprechung jetzt!" skandierenden jungen Menschen priesen auch den "lockeren, sportiven, für Faxen zu habenden" Papst, dessen die taz unter nachdrücklicher Ausräumung jeglichen - weil als peinlich empfundenen - Pathos gedenkt, den Erfinder der "Weltjugendtage", der im Ramadan muslimische Gläubige zum Fasten aufrief.

Auftritte und künstlerischer Ausdruck der Rock-Formation Laibach, Hauptableger des Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst, sind seit zwei Jahrzehnten umwoben von Legenden. Wenn die bärtigen Mannen in ihren kryptischen Uniformen - einer Mixtur aus priesterlichem Ornat und NS-Anleihen - auf den Bühnen vorwiegend des linken Milieus, aber auch auf den großen sommerlichen Freiluftkonzerten mit ihrer hochartifiziellen Schau auftreten (kommenden Mai wieder in Köln und Potsdam), pflegt die Anhängerschaft sowie die bunte Menge der Zufallshörer mittels frenetischer Rufe "Ein Leitbild!" einzufordern. Dem Ruf und vermeintlichen Titelwunsch wird meist erst per Zugabe Folge geleistet durch die mit öffentlichen Stellungnahmen sparsam umgehende Gruppe, die ihre Alben "Opus Dei" und "Jesus Christ Superstar" betitelt.

Das euphorisch verlangte Stück heißt eigentlich "Geburt einer Nation", ist eine auf deutsch dargebrachte Coverversion des bekannten "Queen"-Titels "One vision" und zugleich eine totalitäre Synchronisation des Glaubensbekenntnisses. Martialisch, marschartig hämmert der Rhythmus, sonor kündet eine tiefe Stimme: "Ein Mensch, ein Ziel - und eine Weisung. Ein Herz, ein Geist - nur eine Lösung. Ein Gott, ein Leitbild. Ein Ruf, ein Traum, ein starker Wille. Gebt mir ein Leitbild! Ein Fleisch, ein Blut, ein wahrer Glaube. Ich sag es dir, das Schwarz und Weiß ist kein Beweis. Nicht Not, nicht Tod - wir brauchen bloß: ein Leitbild für die Welt!"

Das Publikum, ob Irokesenfrisur oder Bürstenschnitt, jedenfalls definitiv fern jeglicher christlicher Erziehung, reckt stumm die Arme, spricht nur diesen Ruf mit, während auf der Leinwand im Hintergrund Kruzifixe, Marschkolonnen und Prozessionszüge flimmern: Ein Leitbild!

Der Wunsch nach einem Leitbild, den unter weltlichen Führungskräften heute kaum einer zu erfüllen imstande ist, ist darüber hinaus eine Sehnsucht nach Väterlichkeit im alten Sinne, nach Autorität, nach Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, auch nach Regeln und Grenzen, die das freigelassene Individuum umhegen - und, freilich, an denen es sich reiben kann im existentiell reibungslosen Alltag der westlichen Welt.

Das Bedürfnis nach Führung ist unübersehbar - Gefolgschaft allerdings verlangt mehr als trubelige Highlight-Präsenz. Ob der Nachfolger Johannes Pauls II. den ihm anvertrauten Felsen härten oder aber zum Tropfen werden wird, der den Stein höhlt, muß sich zeigen.


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