© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Ordnungsentwürfe für den Planeten
Reemtsma-Institut abseits der Schuld-Debatten ohne Schwung: Wie die "Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges" auf den "großen Mann" Gorbatschow zuläuft
Bernd Maiwald

Jan Philipp Reemtsmas Geschichtsbilder gleichen selten dem, was man früher mit einem altmodisch gewordenen Begriff "historische Wahrheit" zu nennen beliebte. Aber unter der geistigen Herrschaft eines radikal konstruktivistischen Verständnisses von Realität, die in jedem Fall nur "erfunden" sein kann, kommt es auf Rankes Diktum ohnehin nicht mehr an, der Historiker solle ermitteln, "wie es eigentlich gewesen" ist.

Wenn der Historie also keine Aufschlüsse mehr über "die Wirklichkeit" zu entlocken sind, müssen ihre Fiktionen der Historiker wenigstens unterhaltsam sein. Und niemand könnte bestreiten, daß Reemtsma und sein Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) dieser Erwartung im letzten Jahrzehnt im Übermaß gerecht wurden. Zuletzt wieder an passendem Ort: im "Zeughauskino" des Deutschen Historischen Museums (DHI) in Berlin. Da kündigten HIS und DHI Ende Februar die Tagung "Politik der Schuld" an. Referenten wie Norbert Frei, Daniel Levy, der in Sachen Vertreibung unvermeidliche Pole Adam Krzeminski und Reemtsma selbst versprachen vergnügte Stunden bei Vorträgen etwa zur "Vertreibung als Problem deutscher Selbstthematisierung", "Tätertrauma", "Schuld und Verantwortung" (Reemtsmas Thema - leider keine Familiengeschichte!) oder "Die Politik der Schuld und die Globalisierung der Holocausterinnerung". Fraglos waren das wieder Sternstunden geschichtspolitischer Varietékunst.

Da ist es um so enttäuschender, wenn Reemtsmas Hauszeitschrift (Mittelweg 36, Ausgabe 1/2005) nun vorab einige Resultate einer im Mai 2004 vom HIS in Hamburg ausgerichteten Internationalen Konferenz zur "Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges" abdruckt. Die Tagung selbst war schon ohne Unterhaltungswert, die Referenten wirkten uninspiriert, die Medien entsprechend desinteressiert. Die überarbeiteten Vorträge sollen 2006 in einem Sammelband der "Hamburger Edition" erscheinen. Auch davon ist nicht viel zu erwarten, wie die jetzt vorgreifend publizierten Beiträge von Robert J. MacMahon ("Heiße Kriege im kalten Krieg") und Roger E. Kanet ("Die sowjetische Unterstützung nationaler Befreiungskriege") verraten. Ohne "Schuld", deutsche natürlich, scheint diesem Theaterbetrieb also nicht einmal das Kinderprogramm zu gelingen.

Nun ist aber nicht zu ändern, daß die Deutschen während des Kalten Krieges in die weltpolitische Zweitrangigkeit abrutschten. Geschichtspolitisch ist daher mit ihnen heute nicht mehr viel anzufangen. Konsequent richtete die Tagung darum ihr Hauptaugenmerk weg von Europa auf die Dritte Welt. Dort wurden während der 45 Jahre amerikanisch-sowjetischer Konfrontation die heißen Kriege mit insgesamt zwanzig Millionen Toten ausgefochten.

Banalitäten zu Stellvertreter-Kriegen in der Dritten Welt

Welches Erkenntnisinteresse richtet sich auf den "transatlantischen Frieden", der nur um den Preis dieses permanenten "heißen" Krieges an den Peripherien zu haben gewesen sei? Bernd Greiner bietet einleitend ein paar Untersuchungsziele an, auch für weitere Hamburger Tagungen. Aber die Einsicht, daß die Kehrseite des europäischen Friedens die "Entgrenzung von Gewalt" in jenen fernen Stellvertreterkriegen gewesen sei, oder die These, daß die "kleinen Kriege" zur tiefgreifenden Militarisierung gesellschaftlicher Strukturen in der Dritten Welt geführt hätten - das sind doch Banalitäten. Neues verspricht vielleicht die angekündigte Konferenz zur sozioökonomischen Dynamik im Kalten Krieg. Aber bevor es soweit ist, beherrscht reflexionslose Faktenhuberei weitgehend das Feld.

Entsprechend lustlos arbeiten auch MacMahon und Kanet ihr Pflichtpensum ab und breiten die bekannte Chronologie der Blockkonfrontation vom Koreakrieg über das amerikanische Vietnam-Desaster bis zum sowjetrussischen Afghanistan-Trauma aus. Immerhin öffnet Kanet inmitten dieser Faktenhuberei das eine oder andere kleine geschichtsphilosophische Fenster. So verweist er kurz darauf, wie fest die Ursprünge des Kalten Krieges im Epochenjahr 1917 wurzeln. In der Endphase des Ersten Weltkrieges hätten "Wilsonismus" und "Leninismus" ihre weltpolitische Statur gewonnen. Seitdem hätten sich "zwei diametral entgegengesetzte Ansichten" darüber herausgebildet, "wie die menschliche Gesellschaft eigentlich auf staatlicher und internationaler Ebene zu organisieren sei": Wilsons "demokratisches System", das auf nationaler Selbstbestimmung und freier Marktwirtschaft basierende US-amerikanische Modell, konkurrierte mit Lenins Kommandostaat.

Zwei Ordnungsentwürfe für unseren Planeten: das liberale gegen das kollektivistische System, die, nach Ausschaltung kurzzeitig aufgekommener Mitbewerber in Deutschland und Japan, 1945 fortsetzen, was 1917 als Spiel um die Weltherrschaft zwischen ihnen begonnen hatte. Wenn jedoch die ideologische Komponente im Amerikanismus wie im Bolschewismus eine so mobilisierende Kraft entfaltete, wie Kanet dies voraussetzt, so bleibt rätselhaft, warum die Sowjetunion unter Gorbatschow diesen Glauben an die eigene weltordnende Mission verlor. Zumal dem "sowjetischen Entwicklungsmodell" noch Ende der siebziger Jahre die Zukunft zu gehören schien. Die "aufstrebende sozialistische Staatengemeinschaft" hätte am Vorabend der sowjetischen Intervention in Afghanistan wie der Sieger des Kalten Krieges dagestanden, offenbar bereit, "dem internationalen kapitalistischen System den Rang abzulaufen".

Genügte also wirklich die militärische Niederlage am Hindukusch, um Moskau auch weltpolitisch zum Rückzug zu bewegen und zentrale "marxistisch-leninistischen Glaubensartikel" preiszugeben? Kanet neigt dazu, diese Frage unter Hinweis auf die gleichzeitige ökonomische Krise der Sowjetunion zu bejahen und dem Pragmatiker Gorbatschow dabei die entscheidende Rolle im Politikwechsel einzuräumen, der schließlich in der Einordnung ins kapitalistische System endete. Nach zwei Jahrzehnten Hamburger Sozialforschung scheinen plötzlich wieder "große Männer" gefragt, mit deren Wirken Geschichte erklärt wird.


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