© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

Ins Schußfeld gerät man schnell
Auf der Suche nach dem dritten Weg: Der Germanist und Kulturhistoriker Jost Hermand von rechts gesehen
Wolfgang Saur

Wollte man die letzten einhundert Jahre auf einen Begriff bringen, böte sich die Entwicklungsthese von der "kritischen und utopischen" zur "affirmativen" Moderne an. Hat die klassische Moderne aus dem Zerfall des bürgerlichen Weltbilds und der Kritik politischer Ökonomie neue Menschenbilder entworfen, den Umbau der Kultur propagiert, sieht sich heute das liberale System satt bestätigt, als verwirklichte Utopie. Mit seiner Globalisierung verschwindet auch jene kritische Distanz, die bislang noch möglich war. Einsprüche dagegen werden gern als kryptototalitär fortgewischt.

Typisch stehen dafür Ultraliberale wie Norbert Bolz oder Richard Herzinger, deren Negativität als Utopie der Utopielosigkeit in reine Affirmation umschlägt. Übrig bleiben dann Elogen des Konsums oder des Egoismus oder natürlich die Warnung vor "Extremisten". In Herzingers Buch gegen die bösen "Antiwestler" ("Endzeit") figurieren selbst Asterix und Obelix als "Rechtsradikale", weil sie den autochthonen Protest gegen Invasoren organisierten - illegitim, weil römischer Imperialismus auch einen "universalistischen Gehalt" besaß. In der Reihe der dort Abgestraften erscheint auch Jost Hermand als Autor der "Grünen Utopien in Deutschland" (1991), einer Ökologiegeschichte. Ins Schußfeld der "Anständigen" gerät man schnell.

Es gilt, Hermand, der am 11. April rüstig seinen 75. Geburtstag begeht, als großen Germanisten, Kunstwissenschaftler und Kulturhistoriker des 20. Jahrhunderts zu würdigen. Seit Jahrzehnten hat er uns mit einer Fülle bedeutender Publikationen beschenkt und durch sein persönliches Charisma zahllose Studenten in Amerika und Deutschland nachhaltig geprägt. Als unorthodoxer Sozialist und Sucher nach einem "dritten Weg" hat er seit 40 Jahren publizistisch und auf Vortragsreisen in aller Welt meinungsbildend gewirkt, das Deutschlandbild wesentlich mitbestimmt.

Abstrakte Malerei als Alibikunst der Liberalität

Hermand wuchs in Berlin auf, studierte Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Marburg und promovierte 1956 über die "Formenwelt des Biedermeier" bei Friedrich Sengle, der bei ihm "die außerordentliche Fähigkeit, große Stoffmengen zu durchdringen und die verschiedenen Kulturgebiete miteinander zu verbinden" schätzte. Aus diesem Grund zog ihn der alte Hamann als Mitarbeiter an sich. Richard Hamann (1879-1961), der weltberühmte Kunsthistoriker, hatte nach dem Tod Wilhelm Pinders 1947 dessen Berliner Lehrstuhl übernommen, geriet freilich bald in Spannung zur SED.

Hermands Assistenz vertiefte sich produktiv in dem großen gemeinsamen Werk, den "Epochen deutscher Kultur von der Gründerzeit bis zur Gegenwart". Sie erschienen zwischen 1959 und 1975 zu fünf Teilen, fast vollständig vom Jüngeren verfaßt, beim Ost-Berliner Aufbau-Verlag. Das Werk realisiert exemplarisch integrale Kulturhistorie im Zeitalter der Spezialisierung. Hermand versucht hier, "einen Stil zu entwickeln, der auf allen akademischen Ballast verzichtete und trotz der enormen Materialfülle (...) 'lesbar' blieb, um nicht nur die Zunftangehörigen", sondern ein breites Publikum anzusprechen. Das gelang. Direkt aus den Quellen gearbeitet, stehen die "Epochen" in ihrer universalen Anschauung einzig dar. Kunst, Musik, Literatur, Wissenschaft und Feuilleton werden als historische Dokumente und Indikatoren für mentale Paradigmen befragt. So entstehen dichte Querschnitte, Epochenmuster, Stil und geistige Zeitlage auffächernd.

Konzeptionell und methodisch stimmig bezeichnet der Autor sich als Linkshegelianer, setzt sein Interesse doch mit der "materialistischen" Wende des Jungen Deutschland ein und reicht bis zur Gegenwart. Ein leidenschaftlicher Historismus verbindet sich mit wachem Aktualitätssinn. Gerade umgekehrt zu Nietzsches Vorwurf erweist er den geschichtlichen Sinn als Funktion des Lebendigen. Dabei wirken epischer Gestus und interdisziplinäre Synthese, sein Totalitätskonzept im Licht aktueller Trends wohltuend altmodisch: ein struktureller Konservatismus, der schwerer wiegt als linkspolitische Invektiven im Text.

Hervorragend ist seine Darstellung des "Impressionismus" (1960), die den sensualistischen Bazillus in Lebensgefühl, Menschenbild und Stilprinzipien nachweist, zudem die populäre Allerweltskunst scharf kritisiert. Weist ihr narzißtischer Hedonismus doch voraus auf die massenindividualistische Konsumwelt von heute. Hermand diagnostiziert einen subjektiv willkürlichen "Okkasionalismus", der die Realität zum Stimmungsträger macht und auf Sensationswerte reduziert. Expressionistenkritisch und antipostmodern kehrt diese Liberalismuskritik zurück als roter Faden des Autors. In die moderne Wahl zwischen Gemeinschaft und Subjekt gestellt, ist Hermand Kollektivist.

Anders erscheint das "Weimarer Kulturmodell", eine demokratische "Sachkultur", als positives Alternativkonzept und normativer Grundriß noch für die Gegenwart. In der "Kultur der Weimarer Republik" (1979, mit Frank Trommler) setzten sich die "Epochen" fort, um vorläufig abzuschließen mit der Kultur der BRD (1986/88), deren zweiter Band dann zum Monument produktiven Scheiterns geriet. Tendiert schon der Kulturpluralismus von 1900 zur Unübersichtlichkeit, macht gegenwärtige Entgrenzung die Paradoxie komplett. Solch eine hybride Situation ist nicht mehr darstellbar. So entschwindet bei riesiger Quellenbasis und all dem statistischen Material die Epochengestalt "1965-85", tendiert der Text zur Unlesbarkeit.

Der NS-Zeit widmet sich "Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus" (1988); dort wertet er die mythischen Phantasien zahlloser Unterhaltungsromane aus. Den Faschismuskritiker interessieren indes die "volkssozialistischen" Elemente als ursprünglich legitime Veränderungsimpulse. Die für ihn konstruktive Maxime "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" läßt seine Hinwendung zu ökosozialistischen und kommunitaristischen Ideen begreifen. Ein biographischer Aspekt verweist auf den Schwiegervater Paul Jagenburg, der, Nationalbolschewist, nach 1933 in Buchenwald inhaftiert, Arthur Niekisch nahestand.

1957 stellte die SED Richard Ha-mann kalt. So wurden auch die Hermands ausgewiesen. Freilich war die Karriere des "sozialistisch kompromittierten" Jüngeren in der BRD nun blockiert. So nahm er 1958 einen Ruf ans ferne German Department der Universität Wisconsin in Madison an. Dort lehrt er noch heute, seit 1976 auch an zahlreichen deutschen Hochschulen, inzwischen regelmäßig an der Berliner Humboldt-Universität.

Seit Jahrzehnten füllt er die größten Auditorien, liest ein unendliches Themenspektrum und immer wieder über seine Leitbilder Beethoven, Heine, Picasso und Brecht. Feldherrlich auf dem Katheder, das kommun Professorale ganz zurück, tritt er als Selbstdenker auf, streitet gegen abstrakte Malerei als "Alibikunst einer total entpflichteten Liberalität" und plädiert für kritischen Realismus à la Paul Weber, kritisiert das Avantgarde-Modell als "ewige Wiederkehr des immer Neuen" und Funktion des Warenzyklus, polemisiert gegen Kulturindustrie und Globalisierung, preist dagegen den "Kulturstaat BRD", dessen Kulturpflege und Bildungsmonopol statt Privatisierung.

Als unermüdlicher Opponent der Postmoderne befehdet er die Zeitlage dreifach: wissenschaftlich als selbstbezüglichen Spezialismus, (multi-)kulturell als Beliebigkeit des "ästhetischen Supermarkts", anthropologisch im parasitären Ich-Kult der "neuen Subjektivität".

Die Grünen erkoren ihn zum kulturpolitischen Vordenker

Ideal waren für ihn die linken Siebziger, seine Bücher echte Schlager, ob nun "Pop International" (1971), "Sieben Arten an Deutschland zu leiden" (1979) oder "Orte, Irgendwo. Formen utopischen Denkens" (1981). Seit den Achtzigern geriet er ins Abseits, wurde als veraltet empfunden: politischer Blick, historische Methode und präskriptive Ästhetik, die statt subjektiver "Differenz" auf überindividuelle Verantwortung setzten.

Das erfuhr er auch bei den Grünen, die ihn 1988/89 zum kulturpolitischen Vordenker erkoren. Der Flirt endete jäh mit der Einsicht, daß im Widerspruch zum ökosolidarischen Programm das zentrifugale Freiheitsprinzip Verzicht in der Multikultur unmöglich macht. Man warf ihm "biozentrisches", "anachronistisches" oder "totalitäres" Denken vor, jedes subjektivitätskritische Leitbild tendiere "zum Gulag".

Kulturell schlägt sich das ja derzeit in der Verabschiedung von "Einheit", "Referenz", "Gegenstand" nieder, es soll nur mehr offene "Produktions- und Rezeptionsprozesse" geben, "Spiegelungen" halt. Deshalb resümierte Hermand 1994 kritisch: "Die antitotalitaristische und poststrukturalistische Destruierung der sog. Meisterdiskurse hat bei vielen Geisteswissenschaftlern zu einer ideologischen Ratlosigkeit geführt, durch die sie ihre soziale Identität und somit auch ihr kritisches Telos verloren haben. 'Die Dinge gehen weiter, aber das Vertrauen in ihre Sinnhaftigkeit zerrinnt.' (Niethammer)".

Nimmt man "fortschreitende Naturzerstörung, das Überhandnehmen der konzerngesteuerten Massenmedien sowie die postmoderne Verramschung vieler älterer Hochkulturkonzepte" dazu, so hat auch der Jubilar zuweilen mit "defätistischen Anwandlungen" zu kämpfen. Trotz oder gerade deshalb hält Jost Hermand als Humanist und Sozialist am Bemühen fest, "inmitten der allgemeinen ideologischen Zersplitterung und zunehmenden Desinteressiertheit an weltanschaulichen Fragestellungen einen Sinn" für überindividuelle "Ziele sozialer, kulturbetonter und ökologischer Art wachzuhalten".


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen