© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/05 08. April 2005

"Ich habe einen wunden Punkt berührt"
Großbritannien: Erzbischof von Westminster entfacht Abtreibungsdebatte / Kritik an NS-Vergleich
Alexander Barti

Der römisch-katholische Erzbischof von Westminster, Cormac Kardinal Murphy-O'Connor, schrieb in einem Osterartikel für den Sunday Telegraph, die Kinderabtreibung führe zu einer Geburtenkontrolle im Stil der Nationalsozialisten. Die "entsetzliche Wahrheit" bestehe darin, daß in dieser Frage die Starken das Schicksal der Schwachen entscheiden. Denn Menschen würden von anderen Menschen instrumentalisiert. Das sei die Richtung, in welche die Eugenik gehe. "Wir wissen aus der deutschen Geschichte, wohin das führt."

Und obwohl in der britischen Presse historische Anspielungen nichts Ungewöhnliches sind, gab es auch in Großbritannien einen medialen Aufschrei über den NS-Vergleich - und somit die unterstellte Relativierung der NS-Verbrechen. Anders als der Kölner Kardinal Meisner (JF 03-04/05) ging der 1932 geborene britische Kirchenfürst vor dem medialen Trommelfeuer jedoch nicht in Deckung, sondern zeigte sich froh darüber, daß er kritisch zum Thema Lebensschutz Stellung bezogen hatte: "Ich habe einen wunden Punkt berührt - wie auch die Umfragen in den Zeitungen beweisen - und damit vielen Leuten die Möglichkeit gegeben, ihren Unmut gegen die Tausenden Abtreibungen in unserem Land auszudrücken." Es sei "absolut legitim", solche Themen auf die politische Tagesordnung zu setzen, so Murphy-O'Connor.

In der Tat war der Osterkommentar des obersten Katholiken von England und Wales nicht die erste "katholische Provokation" dieser Art. Bereits zwei Wochen vorher hatte er in einem Interview sinngemäß erklärt, die Wähler sollten bedenken, ob sie abtreibungsfreundlichen Abgeordneten und Parteien ihre Stimme gäben. Aus Londoner Regierungskreisen hieß es daraufhin, Abtreibung sei eine Frage des Gewissens und dürfe nicht zum Wahlkampfthema gemacht werden.

Rabbi Jonathan Romain, Sprecher der britischen Reformsynagogen, zeigte sich - wie im Januar sein deutsches Pendant Paul Spiegel - über die Belehrung des Kardinals ebenfalls empört: "Ich bin absolut nicht einverstanden. Es ist unpassend, daß er das Bild der sechs Millionen benutzt." Man könne außerdem religiös und trotzdem für die Erlaubnis der Abtreibung sein.

Britische Lebensrechtsgruppen waren hingegen dankbar für die deutlichen Worte des Kardinals. Josephine Quintavalle, Gründerin des Comment On Reproductive Ethics (CORE) gratulierte Murphy-O'Connor: "Es ist sehr mutig von ihm, die Parallelen zwischen den sechs Millionen Toten unter den Nazis und den sechs Millionen abgetriebenen Ungeborenen in Großbritannien zu ziehen".

Und anders als in Deutschland sekundierten andere Kirchenfürsten dem britischen Purpurträger. Der Erzbischof von Birmingham, Vincent Nichols, forderte beispielsweise die Wähler direkt auf, ihre politischen Kandidaten bezüglich ihrer "Einstellung zum Leben" zu prüfen. Auch die britischen Konservativen scheinen das Thema für sich entdeckt zu haben. Tory-Chef Michael Howard sprach sich für eine Verkürzung der Abtreibungsfrist von 24 auf 20 Wochen aus, was von Murphy-O'Connor lobend erwähnt wurde. Dabei ist Howard gar kein Katholik. Sein Vater Bernat Hecht floh 1939 aus dem rumänischen Siebenbürgen, wo er sich als Kantor der Synagoge in Ruscova seines Lebens nicht mehr sicher war. Sohn Michael, für den nach eigenen Angaben jüdische Werte wichtig sind, rackerte sich aus bescheidenen Verhältnissen nach oben und will im Mai Tony Blair als Premier ablösen. Daß der 63jährige sich dann die äußerst liberale Abtreibungsregelung seines Landes vornimmt, darf man aber dennoch nicht hoffen - damit sind in Großbritannien keine Wahlen zu gewinnen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen