© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/05 25. März 2005

Die Herausforderung von 1789 angenommen
Die Kirche macht ihren Frieden mit der Demokratie: Rudolf Uertz schildert die Wandlungen der katholischen Staatsrechtslehre
Julius Möllenbach

Die katholische Kirche hat heute ihren Frieden mit der modernen Welt gemacht, theologisch wie politisch. Der Widerstand der Kirche gegen die Prinzipien dieser modernen Welt, gegen Liberalismus und Demokratie, existiert nicht mehr. Wie aber kam es zu diesem fundamentalen Wandel, da noch Ende des 19. Jahrhunderts Religionsfreiheit und andere Grundrechte von der Kirche rigoros als Irrtümer verworfen wurden? Wesentliche Aspekte dieser Entwicklung findet man nunmehr in einer (wie heute üblich) voluminösen Eichstätter Habilitationsschrift von Rudolf Uertz. Der Autor zeichnet sehr detailliert, zugleich aber höchst informativ und gut lesbar nach, wie das katholische Staatsdenken, nachdem es zunächst eine Antwort auf die Ideen von 1789 formulieren mußte, sich in mehreren Schritten zur Anerkennung der Menschenrechte und des liberalen Verfassungsstaates durchrang, um schließlich die Form einer politischen Ethik anzunehmen.

Die Stellung des Naturrechts innerhalb der katholischen Staatslehre erfährt dabei besondere Aufmerksamkeit. Denn die zentrale Fragestellung der Arbeit geht über die rein historische Betrachtung hinaus; sie zielt darauf, ob und inwieweit Scholastik und Neuscholastik sich überhaupt als Legitimationstheorien für den modernen pluralistischen und parlamentarischen Rechtsstaat eignen. Methodisch betont der Autor den Unterschied zwischen Katholizismus und katholischer Kirche, der gerade im Raum des Politischen wichtig ist. Denn die Kirche als Glaubens- und Heilsgemeinschaft ist nicht identisch mit den vielfältigen gesellschaftlichen Betätigungen von Katholiken. So genügt es für eine Darstellung des katholischen Staatsdenkens nicht, lediglich die Lehramtsäußerungen systematisch zu erfassen und zu analysieren. Vielmehr wird man dem von katholischen Laien entwickelten personalistischen Denken Aufmerksamkeit widmen müssen, das sich zum Teil deutlich im Widerspruch zum kirchlichen Lehramt befand und dessen Auffassungen entscheidend beeinflußte.

Im Bereich des Katholizismus, soviel macht Uertz' Studie deutlich, hat sich im politischen Denken eine klare Orientierung am autonomen neuzeitlichen Menschenbild herauskristallisiert. Die Forderung nach einem katholischen Staat, der in traditionalistischer Sicht als Verkörperung der guten Ordnung an sich betrachtet wurde, wird heute von der Kirche nicht mehr erhoben, seit sie über die rein taktische Akzeptanz der Religionsfreiheit hinaus mit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1965 zu einer positiven Formulierung dieser Freiheit gelangt war. Die Kirche gab damit die Lehre von der indirekten Gewalt in zeitlichen Dingen auf, die auf die Zwei-Gewalten-Lehre des Mittelalters zurückging. Das philosophisch-theologische Fundament dieser, wie Uertz völlig zu Recht feststellt, grundlegend neuen These, die im Widerspruch zur bisherigen Lehrtradition des Heiligen Stuhles steht, findet der Autor im christlichen Personalismus, der bis dahin keine zentrale Rolle gespielt hatte. Dieser ist Ausdruck der Betonung der Würde jeder einzelnen Person, der gegenüber die Forderung nach einer staatlichen Verkörperung der Wahrheit und des Gemeinwohls nachgeordnet erscheint.

Blickt man auf die staatstheoretischen und politischen Äußerungen der Päpste des 19. Jahrhunderts, so frappiert aus heutiger Sicht die nur als demagogisch zu bezeichnende Polemik, mit der die "Freiheit des Gewissens" (selbstverständlich in Anführungszeichen) als "seuchenartiger Irrtum" gekennzeichnet wird. Demokratische Freiheitsrechte standen aus Sicht der damaligen Päpste ebenso im Widerspruch zum katholischen Glauben selbst wie die Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche, weil aus der Sicht der einzig wahren Religion eine solche Freiheit lediglich eine inakzeptable Freiheit zum Irrtum bedeutet hätte.

Am Leitfaden der Staatsvorstellungen von Autoren wie Lamennais, de Maistre, Schlegel, Ketteler, Theodor Meyer und anderen arbeitet Uertz überzeugend die schrittweise und zunächst bloß partielle Übernahme genuin liberaler Vorstellungen in das katholische Denken heraus. Lange Zeit hindurch wurde die Entwicklung liberalkatholischer Ideen indes noch durch den "Syllabus errorum" behindert, das Verzeichnis theologischer Irrtümer, welches von Papst Pius IX. 1864 im Anhang zur Enzyklika "Quanta cura" aufgestellt worden war. Bei der Entwicklung moderner Positionen spielte die Staatstheorie des Mainzer Bischofs Ketteler eine wichtige Rolle, versuchte dieser doch, seine liberalkatholischen Ideen mit den Verurteilungen des Syllabus in Einklang zu bringen. Ketteler plädierte gegen den Glaubenszwang für Religions- und Gewissensfreiheit, die sich jedoch auch in seinen Augen nicht auf Materialismus oder Atheismus ausdehnen durften. Aufschlußreich ist des weiteren die Analyse der Rolle der Neuscholastik im Rahmen der Entwicklung einer modernen katholischen Staatsauffassung, fand sich doch in jener Denkströmung eine zum Teil sehr selektive Rezeption der Naturrechtslehre Thomas von Aquins und dementsprechend eine starke Identifizierung von Moral und Recht - was wiederum die Anerkennung pluralistischer Verhältnisse stark behinderte.

Uertz' materialreiche Studie zeichnet präzise nach, wie sich das katholische Staatsdenken wandelte und den Anschluß an die moderne pluralistische Staatsauffassung fand. Offen bleibt dabei jedoch, auch wenn der Autor offensichtlich mit den Neuerern sympathisiert, ob die alte oder die neue Doktrin in sich schlüssiger und konsequenter ist, ob nicht, anders gesagt, das neue katholische Staatsdenken ebenso wie die Wandlungen im übrigen katholischen Denken letztlich das eigentlich Katholische preisgegeben haben. Die moderne Orientierungslosigkeit, die auch die katholische Kirche nicht ungeschoren gelassen hat, spiegelt sich in einer Wendung zur politischen Ethik, die dem Liberalismus faktisch immer größere Zugeständnisse machte und so zunehmend unfähig wurde, dessen Verfallsformen wirksam zu begegnen.

Bild: Kaiser Franz Josef I. wird zum König von Ungarn gekrönt, 8. Juni 1867: Vom Gottesgnadentum zur "Form einer politischen Ethik"

Rudolf Uertz: Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil (1789-1965). Schöningh Verlag, Paderborn 2004, 552 Seiten, kartoniert, 59 Euro


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