© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/05 25. März 2005

Europäische Werte à la carte
EU: Islamische Türkei ja, katholisches Kroatien nein - Brüssel mißt bei den Kandidaten mit zweierlei Maß
Peter Lattas

Alle sind gleich, aber einige sind gleicher - das gilt nicht nur für die EU-Mitgliedstaaten, son-dern erst recht für die Beitrittskandidaten. Zu den "Gleicheren" gehört fraglos die Türkei: Kaum ist der Beschluß zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gefaßt, fällt das Potemkinsche Reformdorf der angeblichen Europareife auch schon in sich zusammen.

Zu den weniger Gleichen zählt dagegen Kroatien. Fünfzehn Jahre nach den ersten großserbischen Aggressionen gegen sein Territorium mußte das kleine mitteleuropäische Land letzte Woche aus Brüssel erfahren, daß die mächtige pro-serbisch (und Jugoslawien-nostalgische) Lobby in Brüssel späte Rache für die gegen ihren Willen erkämpfte Unabhängigkeit des Landes nimmt, indem sie unter dem fadenscheinigen - und unbewiesenen - Vorwand der "mangelnden Kooperation" mit dem Uno-Kriegsverbrechertribunal den Start der Beitrittsgespräche mit Zagreb erneut vertagt.

Die Willkür der Entscheidung ist mit Händen zu greifen. Vor einem Jahr bestätigte Chefanklägerin Carla del Ponte Kroatien "volle Kooperation" mit dem Tribunal, heute macht sie den Fall des untergetauchten Generals Ante Gotovina (JF 12/05) zur Alles-oder-Nichts-Frage, ohne daß sich an der Einstellung und dem Verhalten Kroatiens substantiell etwas geändert hätte. Angeführt von Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und Schweden, machte die EU-Mehrheit den Schwenk - aus unterschiedlichen Motiven - reibungslos mit. Da vor allem London und Den Haag von Anfang an zu den schärfsten Kritikern der kroatischen Unabhängigkeit gehörten und dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic bis zuletzt die Stange hielten, liegt der Verdacht auf einen bestellten Vorwand nahe.

Entsprechend wetterwendisch sind die Begründungen. Im Falle der Türkei hieß es noch: Ein fester Termin für den Verhandlungsbeginn müsse her, um den "Reformprozeß" nicht zu entmutigen. Kroatien hingegen wird brüskiert, obwohl es den Anpassungsprozeß an EU-Normen weiter vorangetrieben hat als so mancher Kandidat, der - wie das bettelarme und korruptionsverseuchte Rumänien - schon einen festen Beitrittstermin (2007) in Aussicht hat. Und im Hintergrund werden schon ermunternde Signale an die Ukraine gesandt, die im Vergleich zu Kroatien rechtsstaatlich wie ökonomisch Lichtjahre hinter dem EU-Durchschnitt zurückliegt, gleichwohl aber für seinen Regimewechsel mit einer "europäischen Perspektive" belohnt werden soll.

Während das kleine Kroatien trotzig an seinem Kurs Richtung EU-Beitritt festhält, verläßt sich die Türkei offenkundig darauf, die Vollmitgliedschaft schon in der Tasche zu haben. Nur wenige Wochen nach der Brüsseler Gesprächszusage hält die Regierung Erdogan es offensichtlich nicht mehr für nötig, die Fassade ihrer Pseudoreformen aufrechtzuerhalten. Bürgerrechtsorganisationen schlagen Alarm angesichts massiver Rückschritte in Sachen Rechtsstaatlichkeit.

Das brutale Vorgehen der türkischen Polizei gegen Frauentags-Demonstrantinnen am 8. März in Istanbul läßt inzwischen selbst Sozialdemokraten wie den SPE-Fraktionsvorsitzenden im EU-Parlament Martin Schulz auf Distanz zum EU-Beitritt der Türkei gehen: Wenn strenge Maßstäbe an Kroatien angelegt würden, müsse das auch für die Türkei gelten. "Wenn die Türkei Verhandlungen wünscht, muß noch einiges passieren", warnte der SPD-Politiker in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos wurde noch deutlicher: "Die Türkei hat ihre Bemühungen, die EU-Standards zu erfüllen, just in dem Moment eingestellt, in dem der EU-Beschluß zur Aufnahme von Verhandlungen gefaßt wurde." Und erst vor kurzem hat das türkische Verfassungsgericht das auf EU-Kurs getrimmte Immobiliengesetz des Landes gekippt und jeglichen Grunderwerb durch Ausländer verboten - ein klarer Affront gegen europäische Rechtsnormen.

Vor diesem Hintergrund wird die Chuzpe deutlich, die hinter dem Pathos steckt, mit dem nach der Absage an Kroatien verkündet wurde, die harte Haltung gegenüber Kroatien sei dem Selbstverständnis der EU als Wertegemeinschaft geschuldet. Eine konsequente Haltung wurde bislang auch nicht gegenüber der Tschechei und Polen an den Tag gelegt, deren unnachgiebiges Beharren auf dem Fortgelten der völkerrechtswidrigen Vertreibungsdekrete zu keinem Zeitpunkt ein Beitrittshindernis darstellte. Im Falle der Türkei dagegen soll die Europäisierung nicht Bedingung, sondern Folge des EU-Beitritts sein.

Das Hochspielen des "Falles Gotovina", für dessen Auslieferung ein ganzes Land in Geiselhaft genommen wird, hat seinen Hintergrund nicht zuletzt in der unterschiedlichen Deutung der jugoslawischen Erbfolgekriege. In zahlreichen westlichen Staatskanzleien, voran in London und Paris, wurde das Unabhängigkeitsstreben der Kroaten als Infragestellung der aus dem Sieg über Deutschland hervorgegangenen Nachkriegsordnung und als Kampfansage an das "multikulturelle" Prinzip abgelehnt. Um die kroatische Eigenstaatlichkeit zu diskreditieren, tat man den Unabhängigkeitskrieg als "Bürgerkrieg" ab und setzte die großserbische Aggression systematisch mit dem Verteidigungskrieg der Angegriffenen gleich. Schuldige und Kriegsverbrecher mußten daher auf allen Seiten gleichmäßig gesucht und gefunden werden.

Die Vermutung ist naheliegend, daß es der einflußreichen antikroatischen Lobby in Brüssel auch darum geht, ein katholisch-mitteleuropäisches Land auszugrenzen, das nie ein Hehl aus seiner natürlichen Affinität zu Deutschland und Österreich gemacht hat. Indem er sich zum Wortführer der Gegner eines kroatischen EU-Beitritts macht, versucht Großbritanniens Labour-Außenminister Jack Straw zugleich, in Fortsetzung einer britischen diplomatischen Tradition die Entstehung eines prodeutschen Blocks in Zentraleuropa zu verhindern. Kroatien ist in dieser Sichtweise verdächtig, weil es schon im letzten Krieg auf der falschen Seite stand.

Deutschland hat durch das unreflektierte Mittragen der harten Haltung im Fall Gotovina viel politisches Porzellan in einem Land zerschlagen, das sich der deutschen Einflußsphäre zugehörig fühlt. Die deutsche Politik wäre gut beraten, solche Kriterien in Betracht zu ziehen, bevor sie bedenkenlos die in willkürliche Wertebegründungen verpackten Strategiespiele der anderen mitmacht.

Daß in Deutschland Geopolitik ein Tabuwort ist, heißt ja nicht, daß andere sie nicht betreiben. Für die Siegermächte von 1945 gehören Deutschland und Österreich auch 60 Jahre danach noch zu den "weniger Gleichen". Die Konsequenz daraus sollte nicht Anpassung um jeden Preis heißen, sondern Emanzipation durch Werbung und Unterstützung geeigneter Bundesgenossen.

Foto: General Gotovina (2.v.l.) mit kroatischem Ex-Präsidenten Franjo Tudjman: Untergetauchter Kriegsheld als Hindernis für den EU-Beitritt


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