© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/05 18. März 2005

Zeitschriftenkritik: Nouvelle Revue d'Histoire
Unsere Nachbarn in China
Hans B. von Sothen

Was wissen wir in Europa über die Türkei? Was wissen wir über ihr historisches Selbstbewußtsein, ihre Identitätsbildung? Die Antwort lautet wohl in den meisten Fällen: ziemlich wenig. Die Türkei ist das Schwerpunktthema der jüngsten Ausgabe der von dem französischen Historiker Dominique Venner herausgegebenen und der Nouvelle Droite nahestehenden Zeitschrift Nouvelle Revue d'Histoire. Nachdem dieses anspruchsvolle Hochglanzmagazin sich bereits mehrfach kompetent mit dem Thema Islam befaßt hat, nun also das Thema Türkei, das durch die Aufnahmeverhandlungen dieses Landes für die Europäische Union größte Aktualität erlangt hat. Und Venner stimmt uns in seinem Editorial gleich auf einen gewissen Skeptizismus ein: "Festzustellen, daß die Türkei weder von ihren Ursprüngen her noch von ihrer Geschichte noch von ihrer Kultur ein europäisches Land ist, heißt schlicht eine objektive Tatsache zu berichten, die weder ein Unwerturteil noch gar Feindlichkeit impliziert."

Einer der lesenswerten Artikel des Türkei-Dossiers der Zeitschrift behandelt das in Frankreich nie aus der Mode gekommene Thema Geopolitik; hier die oft unterschätzte Geopolitik der Turkvölker, die seit vielen Jahren von Istanbul rigoros als Machtinstrument eingesetzt wird. Der Turanismus, der in europäischen Gazetten schlicht nicht wahrgenommen wird, ist ein Machtinstrument, das auch die Amerikaner bereits seit einiger Zeit als regionales Ordnungsinstrument in ihrem Sinne einzusetzen versuchen. Sieht man sich die Landkarte daraufhin an, so sieht man eine ganz andere Ausrichtung der Türkei: nämlich eine nach Zentralasien. Wenig bekannt scheint in Brüssel beispielsweise zu sein, daß sämtliche Angehörige von Turkvölkern automatisch einen Anspruch auf einen türkischen Paß haben: Aserbaidschaner, Kasachen, Usbeken, Kirgisen, Turkmenen bis hin zu den in China lebenden Uiguren. Hier scheint man noch gar nicht begriffen zu haben, was da auf die Europäer zukommt, denn in Istanbul pflegt man nicht mit offenen Karten zu spielen. Umgekehrt scheinen auch die Türken kaum zu ahnen, was sie erwarten wird, wenn man den staatlich verpflichtenden Geschichtsrevisionismus in der Armenienfrage auf Druck von Brüssel wird aufgeben müssen.

Des weiteren befaßt sich die aktuelle Ausgabe mit der in Jahrhunderten gewachsenen Nachbarschaft zwischen Türken und Europäern. Diese war, gerade auch von den Türken betrachtet, selten eine gleichberechtigte Beziehung, sondern fast stets eine Frage von Krieg und dem Willen zur Unterwerfung. Die von Philippe Conrad beschriebene Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, mit der eine jahrhundertealte genuin europäische Kultur zugrunde ging, ist nur ein Beispiel dafür. Die in den folgenden Jahrhunderten stattfindenden europäischen Abwehrkämpfe gegen die vordringenden Türken beleuchten hier Persönlichkeiten wie Matthias Corvinus, Eugen von Savoyen und Jan Sobieski. Das Heft schließt mit Xavier Raufers etwas beunruhigender Untersuchung über die Ausbreitung der türkischen Mafia über Europa.

Nun bietet die Nouvelle Revue d'Histoire glücklicherweise keineswegs nur Bedrohungsszenarien, aber es zeigt doch eine Sicht der Dinge, die bei den Entscheidungen, die demnächst in Brüssel anfallen werden, offensichtlich keine Rolle spielt - oder spielen soll. 

La Nouvelle Revue d'Histoire, 88 avenue de Ternes, F-75017 Paris, Frankreich. Preis für eine Ausgabe (ohne Porto): 6 Euro, Jahresabo (Europa; 6 Nummern): 39 Euro. Internet: www.nrh.fr 


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