© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/05 18. März 2005

"Wie trägt man schwer des eignen Volkes Fall!"
Karlheinz Weißmanns Analyse des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit widerspricht dem Dogma einer Befreiung
Harald Seubert

Falscherweise werde über die ganzen Vorgänge um das Jahr 1945 ein Leichentuch gebreitet, so hatte in den frühen fünfziger Jahren die große Publizistin Margret Boveri bemerkt; und in Briefen an Paul Sethe und Freya von Moltke hinzugefügt, auch hier, nicht nur im ost-westlichen Konfliktfeld seien "eiserne Vorhänge" abzutragen.

Es bedurfte einer langen Inkubationszeit, bis es soweit kam. Das soeben von Karlheinz Weißmann vorgelegte Werk "Die Besiegten" leistet dazu einen bedeutenden Beitrag. Eröffnet wird es von einem ungewöhnlich bewegenden Zeugnis, dem letzten Brief des Ende Mai 1945 wegen Spionage für die deutsche Wehrmacht zum Tode verurteilten gerade sechzehnjährigen Heinz Petry. Ein Unbekannter kommt hier zu Wort; er wendet sich an seine Eltern und, nach einem ungelebten Leben, an die kommende Generation, die ihm in seinem jüngeren Bruder vor Augen steht. "Denn das, was ich tat, tat ich nicht für eine Regierung, die uns verraten und betrogen hat, sondern in der gläubigen Hoffnung, meinem geliebten deutschen Vaterland und meinem Volke damit zu dienen." Einfacher und zugleich eindringlicher könnte kaum angezeigt werden, weshalb die Antithese von "Niederlage oder Befreiung", zeitweise eine Gesinnungsfrage, eine unzulässige Vereinfachung bedeutet.

Weißmann eröffnet den Band mit einer souveränen Einleitung, die die geschichtspolitische Festlegung der Ereignisse des Jahres 1945 auf den Topos der "Befreiung" im Zusammenhang der Deutungsgeschichte eines Datums befragt, das dem Fluß der Geschichte entzogen und zu einem Mythos von "immerwährender Gegenwart" fixiert wurde: verankert in der Tendenz, das "alte Deutschland" hinter sich zu lassen und ein neues an der Seite der Siegermächte, des Westens wie des Ostens, zu erfinden. Insofern ist die undifferenzierte Rede von der "Befreiung", wie ihr inflationärer Gebrauch in der einstigen DDR zeigt, letztlich eine Exkulpationsformel, die die Deutschen zugleich auf das "widerlegte Volk" (Arnold Gehlen) festlegte. Weißmann legt eindrücklich dar, daß gerade dezidierte Gegner des Hitler-Regimes wie Kurt Schumacher oder der bis heute unübertroffene Analytiker des "SS-Staats" Eugen Kogon das Dogma der Befreiung nicht mit vollziehen konnten. Schumacher schrieb in den ersten Nachkriegsjahren: "Mit dem Wort von der Gesamtschuld beginnt eine große geschichtliche Lüge, mit der man den Neubau Deutschlands nicht vornehmen kann." Es ist bedrückend nachzuvollziehen, daß die Offenheit der Debatte eher abnahm, befördert durch die Anklagetheatralik der APO-Generation, aber auch eine parteiübergreifende, mit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1945 kodifizierte "Zivilreligion", in der der - unbefragbare - Befreiungstopos einen herausgehobenen Platz einnahm. Weißmann deutet an, daß sich das Jahr 1945 auch in eine unselige Kontinuität des europäischen Bürgerkriegs im zwanzigsten Jahrhundert einfügt, in den "diskriminierenden Feindbegriff" (Carl Schmitt), der das Recht im Krieg, nach Kant conditio sine qua non eines ewigen Friedens, ad absurdum führen muß. Die zivilreligiöse Ikone des Kaugummi verteilenden GIs ist keine Chimäre, sie präsentiert aber nur eine Teilwahrheit.

Sein unverkennbares Profil gewinnt der Band aus der Verbindung zwischen den nüchternen überblicksartigen, das vorhandene Zahlen,- Daten- und Quellenmaterial konzentriert präsentierenden Einleitungsabschnitten Weißmanns und den Stimmen der Zeitzeugen: Dabei stehen Aufzeichnungen Namenloser neben literarischen Beschreibungen zerstörter Städte wie in den Tagebüchern Horst Langes, Briefen von Schriftstellern (Kasack, Nossack) und offiziellen Papieren und Verlautbarungen. Auch das nüchterne Zahlenwerk der Statistik wird, wo es die Anzahl von Internierten und die Betroffenheit der Zivilbevölkerung betrifft, sprechendes Dokument. Im Fokus der Zeugnisse steht die Zivilbevölkerung: Frauen, Kinder, ohne daß die bedrückende Situation der Soldaten übergangen würde.

In kluger Gliederung werden insgesamt acht Problemkreise unterschieden: der "Endkampf", mit Zeugnissen über die dramatischen kriegerischen Auseinandersetzungen bis zum Mai 1945, die "Besetzung" mit dem Echo der Erleichterung über das Ende der Kampfhandlungen, die aber, wie sich im Kaleidoskop der Berichte zeigt, zugleich als Phase der vollständigen Rechtlosigkeit erfahren wurde. Diesem Moment trägt ein eigener Abschnitt über das "Interregnum" zwischen Mai und Juni 1945 Rechnung, der den Blick auf die verwahrlosende Wirkung der Anarchie, Schmuggel, Wohnungsnot, nicht zuletzt die terrorisierenden Umtriebe von Displaced Persons lenkt. Differenzen zwischen den Besatzungsmächten, mehr aber noch konkrete Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen werden in Ausschnitten faßbar. Ungeachtet der britischen Sicht auf die unseligen Traditionen deutscher Geschichte blieben Übergriffe aus, die von französischer und amerikanischer Seite bezeugt sind. Die Sowjetarmee umging schließlich jede Einhegung des neuzeitlichen Kriegsrechts. Raub und Brandschatzen erinnerten an die Epochenkatastrophe des 17. Jahrhunderts, wofür pars pro toto die Katastrophe von Demnin einsteht.

Charakteristische Dokumente zur "Kriegsgefangenschaft", jedoch auch der weitgehend recht- und regellosen "Internierung" von Zivilisten schließen sich an. Nur exemplarisch, allerdings in prägnanten Zeugnissen zwischen Westpreußen, Danzig, Görlitz und Mähren wird sodann an die Leiden und Schrecknisse der "Vertreibung" erinnert. Sie ist von der Ende 1944 durch den NKWD-Befehl Nr. 7161 einsetzenden Verschleppung, de facto einer Versklavung zur Zwangsarbeit, zu unterscheiden. Mit der Installation der "Siegermacht", der das letzte Kapitel gewidmet ist, endet die Rechtlosigkeit.

Einzelne der Erinnerungszeugnisse prägen sich unvergeßlich tief in das Gedächtnis ein: Dazu gehören Berichte von der Vertreibung aus Königsberg, aber auch die völlig nüchterne, ironische Reportage der britischen Journalistin Freda Utley. Vollständigkeit kann bei einer solchen Sammlung nicht erreicht werden: Der Blick der Zeitgenossenschaft, der ohne Sichtblenden Schreckenserfahrungen aussetzt, kann aber jeder "Perzeptionsverweigerung" (H. von Doderer) eine Grenze setzen, die sich in unbefragten Epitheta, dogmatischen Reduktionen manifestiert. Weißmanns Anthologie bietet ein lebendes Denkmahl, die Reminiszenzen verdichten sich zu Schreien, mehr Klage als Anklage; eine gleichermaßen bedrückende, erschütternde und kathartische Lektüre. Nur wem das ideologische Korsett zur zweiten Natur geworden ist, der wird über jene Schicksale hinwegsehen können. Dies nicht zu tun, gehört zu den Imperativen der Humanität und zu deutschem kulturellen Gedächtnis. Existentielles Leid ist, so sollte die elementarste Humanität gebieten, nicht teilbar und nicht verrechenbar. Dieses Buch kann nicht, wie es eine historische Darstellung tun muß, die Magma erinnerten Geschehens in die kalte, abgeklärte Erkenntnis heben; es kann und will die von Weißmann selbst angemahnten, noch ausstehenden historischen Untersuchungen, etwa zu den Demontagen auch in den Westsektoren, dem Besetzungsvorgang, den Ursachen der Unterversorgung nicht ersetzen. Es macht die Notwendigkeit solcher Forschungen und verbliebene Leerstellen aber sinnfällig klar. Und es zeigt, daß die geschlagenen Deutschen nach sechzig Jahren sich zu der Trauer befreien müssen, wie sie sich in Albrecht Haushofers Zeilen aus den "Moabiter Sonetten" spiegelt, die Weißmann zu Recht dem Band voranstellt: "Wie hört man leicht von fremden Untergängen,/ wie trägt man schwer des eignen Volkes Fall!/ Vom fremden ist's ein ferner Widerhall,/ im eignen ist's ein lauter Todesdrängen".

Foto: Deutsche Soldaten ergeben sich den Briten, Bremen 1945: Die Rede von der "Befreiung" ist letztlich eine Exkulpationsformel

Karlheinz Weißmann (Hrsg.): Die Besiegten. Die Deutschen in der Stunde des Zusammenbruchs 1945. Edition Antaios, Schnellroda 2005, 300 Seiten, kartoniert, 24,00 Euro


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