© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/05 18. März 2005

Das letzte Crescendo
Im abschließenden "Echolot"-Band überläßt Walter Kempowski den Zeitzeugen die Interpretation des Kriegsendes 1945
Thorsten Hinz

Jetzt erst, beim Erscheinen des zehnten und letzten Band von Walter Kempowskis "Echolot", wird die Bedeutung des fast 9.000 Seiten umfassenden Buchprojekts über den Zweiten Weltkrieg ganz ersichtlich. Der Literatur-Charakter der scheinbar so monotonen Text-Montagen aus Tagebüchern, Briefen, Berichten, Memoiren und offiziellen Meldungen war in der Vergangenheit immer wieder in Frage gestellt worden. Jetzt sieht man, wie filigran und streng das Monumentalwerk komponiert ist, wie es auf dieses Finale, den "Abgesang '45" zustrebte, wie seine Details von hier aus ihren geschichtlichen Gehalt offenbaren. Die Komposition erinnert an Ravels "Bolero", der mit zwei von einer Soloflöte dargebotenen Tanzthemen beginnt, die dann 18 Mal wiederholt und indirekt variiert werden, indem jeweils ein anderes Instrument bzw. eine Instrumentengruppe das Themenmaterial aufnimmt und über den stets gleichbleibenden Rhythmus ein beklemmendes Orchester-Crescendo aufbaut. Eine Musik wie ein Mahlstrom, der alles in seinem Strudel mit hinabreißt: Hinab in den Untergang!

Überlegt und hintersinnig eine Textauswahl getroffen

Kempowski beschränkt sich auf fünf Tage des Jahres 1945: Auf den 20. April, den letzten Geburtstag des "Führers", auf den 25. und 30. April sowie den 8. und 9. Mai, den Tag der Kapitulation. Nochmals wird auf mehr als vierhundert Seiten über Krieg, Bomben, Flucht, Vertreibung, Angst, Vergewaltigung, Hunger, Befreiung, über Hybris und Verzweiflung berichtet. Zu Wort kommen hohe NS-Repräsentanten, KZ-Insassen, Exilanten, Durchschnittsbürger, Kriegsgefangene, Soldaten, Auslandskorrespondenten, die in Berlin ausharren. Die Ausschnitte betreffen die Alltagsebene an der Front und in den zerbombten Städten genauso wie die Königsebene der Staatsmänner.

Die Stimmen sind naturbelassen. Die Menschen geben das Ungeheuerliche, das sie erleben, in der Sprache wieder, die ihnen eben zur Verfügung steht. Die zwanzigjährige Marthel Kaiser aus Westfalen drückt ihren Schock über die KZ-Greuel, von denen sie gerade erfahren hat, im Tonfall der properen Hausfrau aus, die unverhofft Besuch erhält, und die Betten sind noch nicht gemacht: "Was müssen die Feinde von uns denken!" Ein britischer Captain schreibt an seine Familie: "Ich bin überzeugt davon, daß dem Durchschnittdeutschen nicht bewußt ist, was sich in den Lagern abspielt."

Überlegt und hintersinnig hat Kempowski seine Textauswahl getroffen. Einer der Berichterstatter über das Zusammentreffen von Russen und Amerikanern am 25. April bei Torgau an der Elbe ist der US-Lieutenant Albert L. Kotzebue, ein Nachfahre des Schriftstellers August von Kotzebue, der 1819 als russischer Staatsrat, vermuteter Agent des Zaren und Feind der deutschen Nationalbewegung von dem Burschenschafter Karl Sand ermordet wurde. Nun wird ein amerikanisierter Kotzebue Zeuge, wie die von Tocqueville vorhergesagte Teilung der Welt zwischen den USA und Rußland im Herzen Deutschlands besiegelt wird. Ein deutscher Soldat sinniert, ob "nicht der biologisch starke, unverbrauchte slawische Mensch zum Erben Europas bestimmt" sei. Auch die Germanen, denen jetzt der "biologische Volkstod" bevorstehe, seien den Römern einst als Barbaren erschienen.

Ein 17jähriger "Geltungsjude" aus Königsberg, der das NS-Regime überlebt hat, vegetiert nun in einem russischen Lager in Ostpreußen, wo die Menschen reihenweise an Hunger, Folter, Krankheit und Kälte sterben. Deutsche KZ-Opfer, die eben aus der Hölle befreit worden sind, werden plötzlich von den anderen separiert, weil auch sie der Fluch trifft, der auf dem deutschen Namen lastet. Die Schauspielerin und spätere Ordensfrau Isa Vermehren, die drei Konzentrationslager hinter sich hat, verspürt eine "schmerzhafte Übelkeit". Ein Trost sind ihr die "amerikanischen Girls", die zu ihrer Betreuung abgestellt waren und sich "ganz uneingeschüchtert ihre natürliche Herzlichkeit" und "unangefochtene Teilnahme" bewahren. Klar und mutig die Stimme Ludwig Marcuses, der sich im kalifornischen Exil "leidenschaftlich" gegen den Begriff der "Kollektivschuld" wendet, "der Ausdruck einer Hitler-Methode, der Praxis der Unmenschlichkeit" sei.

Aufschlußreich die Errata in nachträglich niedergeschriebenen Berichten. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, der damals in Norditalien stationiert war, will in Goebbels' letzter Geburtstagsrede auf Hitler noch etwas von "Wunderwaffen" gehört haben. Das ist nachweislich falsch, aber so funktioniert das Gedächtnis.

In Berlin kommen unterdessen russische Flammenwerfer gegen Wohnhäuser zum Einsatz. Bevor ein Mann zum Volkssturmeinsatz ausrückt - den er nicht überleben wird -, übergibt er seiner 21jährigen Tochter eine Pistole und nimmt ihr das Versprechen ab, sich beim Einmarsch der Russen zu erschießen, um der Vergewaltigung zu entgehen: "Er gab mir noch die Anweisung, den Lauf in den Mund zu halten." Ein paar Tage später muß selbst die achtjährige Inge herhalten, um den Geschlechtstrieb ihrer "Befreier" zu befriedigen. Kempowski zitiert aus den Sterbebüchern Berliner Friedhöfe. Ganze Familien sind in jenen Tagen in den Tod gegangen. Rotarmisten zählen in aller Unschuld und Ausführlichkeit die "Geschenke" auf, die sie ihren Angehörigen aus dem besiegten Deutschland schicken. Andere Rotarmisten schreiben über ihre Alpträume, von der Sehnsucht nach Stille und ihrem Heimweh.

Geschichte ohne Sortierung nach Täter- und Opferanteilen

Hitler klammert sich noch immer an die Hoffnung, die Alliierten würden sich zerstreiten und er selber wie der Phönix aus der Asche aus seinem Bunkerloch aufsteigen. In Wahrheit ist er selbst die wirksamste Klammer der widernatürlichen Koalition. Zur gleichen Zeit tauschen Stalin und Churchill "persönliche und streng geheime Botschaften" aus, in denen sie sich zusichern, daß ein separater Friedensschluß nicht in Betracht komme.

Was für ein Werk! Und was für ein Schriftsteller! Während der deutsche Kultur- und Literaturbetrieb eine überflüssige Debatte nach der anderen anzettelt und die Geschichte nach Täter- und Opferanteilen sortiert, sitzt hoch im Norden in Nartum bei Bremen ein grummelnder Dorfschullehrer, der, anstatt öffentlich zu schwatzen, bei seinen Leisten bleibt und - arbeitet! Kempowskis deutsche Schicksalssinfonie stellt Wolfgangs Koeppens Roman "Tauben im Gras" genauso in den Schatten wie die Epochenromane des Übermoralisten Heinrich Böll, der seine Figuren schlicht danach unterschied, ob sie zwischen 1933 und 1945 vom Sakrament der Büffel oder dem der Lämmer gekostet hatten. Das einzige Nachkriegswerk, das zum Vergleich einlädt, sind Uwe Johnsons "Jahrestage".

Mit seinem "Echolot" wird Walter Kempowski Literaturgeschichte machen. Aber nicht bloß Literaturgeschichte.

Foto: Deutscher Soldat vor dem zerstörten Reichstag, Berlin 1945: "Was müssen die Feinde von uns denken!"

Walter Kempowski: Das Echolot. Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag, München 2005, 496 Seiten, gebunden, 49,90 Euro


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