© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/05 11. März 2005

Freie Forschung verlangt Mut
von Alfred Schickel

Seit den Zeiten des Thukydides versteht man unter "Geschichts- forschung" das Bemü- hen, anhand von schriftlichen, bildlichen und mündlichen Zeitzeugnissen die Vergangenheit zu vergegenwärtigen und dabei nach den Umständen und Gründen vollzogener Handlungen zu fragen.

Das Ergebnis solchen Tuns ist der Gewinn von Erkenntnissen. In diesem Verständnis ist die Monographie des Thukydides über den Peloponnesischen Krieg entstanden - gefolgt von den Ge-schichtswerken eines Leopold von Ranke, Hellmut Diwald, Joachim Hoff-mann und Ernst Nolte.

Dieses Bemühen um eine ergebnisoffene Vergegenwärtigung der Vergangenheit steht im Artikel 5, Absatz 3 unter dem Schutz des Grundgesetzes. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Januar 1994 noch einmal ausdrücklich bestätigt. Es hat dabei auch einen zur Diskriminierungsvokabel depravierten Ausdruck wissenschaftlichen Arbeitens aus den Niederungen ideologischer Kampagnen zur eigentlichen Sinnbedeutung zurückgeholt und rehabilitiert: "die Revision". Es stellte nämlich fest: "Artikel 5, Absatz 3, Satz 1 des Grundgesetzes schützt nicht eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenschaftstheorie. Das wäre mit der prinzipiellen Unvollständigkeit und Unabgeschlos-senheit unvereinbar, die der Wissenschaft trotz des für sie konstitutiven Wahrheitsbezugs eignet ... Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben, bleiben der Revision und dem Wandel unterworfen. Die Wissenschaftsfreiheit schützt daher auch Mindermeinungen sowie Forschungsansätze und -ergeb-nisse, die sich als irrig oder fehlerhaft erweisen."

Im Unterschied zu diesen Merkmalen der Geschichtsforschung offenbart sich die Geschichtspolitik als zweckbe-stimmte Instrumentalisierung vergangener Ereignisse, ohne sich der Darstellung der Vorgeschichte und der Berücksichtigung der Zeitumstände verpflichtet zu fühlen. Ihr Ergebnis ist das Erzielen von Wirkung.

Vornehmlich betrieben wird sie von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, veranlaßt durch deren Ehrgeiz, gesetzte politische Ziele zu erreichen oder durch den Vorsatz, anfallende Jahresdaten zu würdigen, und zunehmend geleitet von der Absicht, die Zeitgenossen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dank Macht oder Vermögen entwickeln sie sich dabei zu Meinungsmachern und Meinungsführern ihrer jeweiligen Öffentlichkeit.

Der Gewinn und der Erhalt der Deutungshoheit über das aktualisierte Ereignis sind ihnen ungleich wichtiger als die genaue Kenntnis von dessen Vorgeschichte und Ablauf. Das fehlende Wissen ersetzen sie nicht selten durch eine demonstrative Belehrungsmoral oder publizistische Ausgrenzung. Ihre Bannflüche reichen von "Ewig-Gestriger" über "Verharmloser" bis "Volks-verhetzer" und führen den solchermaßen Gebrandmarkten nicht selten bis vor die Schranken des Gerichts.

Weil sich diesem Risiko nicht jeder Sachkenner aussetzen möchte, breitet sich die Geschichtspolitik immer weiter aus und prägt zunehmend des Bewußtsein der Zeitgenossen. Zu den Geschichtspolitikern übergelaufene Hi-storiker verstärken noch deren Reihen und dünnen die vom Bundesverfassungsgericht eigens geschützten Geschichtswissenschaftler weiter aus.

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Das Bemühen um eine ergebnisoffene Vergegenwärtigung der Vergangenheit steht unter dem Schutz des Grundgesetzes. Das hat das Bundesverfassungsgericht im
Januar 1994 noch einmal ausdrücklich bestätigt.

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Die Folgen sind vielfältig. Sie schlagen sich in individuellen Lebensläufen nieder, und sie erfassen das ganze Volk. Sie erleichtern dem innerstaatlichen Geheimdienst, sich in den geschichts-forscherlichen Diskurs einzumischen und sich Personen- und Sachbewertun-gen herauszunehmen. Einschlägige jährliche "Berichte" belegen diese usurpatorische Praxis.

Die in den vergangenen Jahren zur Begleichung angestandenen Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter und die 2004 aus Warschau laut gewordenen Reparationsforderungen machten die Konsequenzen dieser Ge-schichtspolitik überdeutlich. Sie werfen zugleich die Frage nach der Verbindlichkeit des Artikels 56 des Grundgesetzes auf. Er verpflichtet bekanntlich, den "Nutzen des deutschen Volkes" zu mehren und "Schaden von ihm zu wenden". Die Zahlung von Millionen- und Milliardenbeträgen an Personen, die bereits durch konfisziertes deutsches Vermögen zu entschädigen waren, stellt sich als Beispiel für die pekuniäre Auswirkung der betriebenen Geschichtspolitik dar.

In den von der tschechischen Regierung hartnäckig in Gültigkeit gehaltenen "Präsidenten-Dekreten" des Edvard Benesch ist nämlich eine solche Entschädigung tschechoslowakischer Bürger bereits ausdrücklich festgelegt.

So heißt es beispielsweise im Dekret vom 21. Juni 1945 über "die Konfiskation und beschleunigte Aufteilung des landwirtschaftlichen Vermögens der Deutschen, Magyaren wie auch der Verräter und Feinde des tschechischen und slowakischen Volkes" im Paragraph 7, Absatz 6 wörtlich über die Zuteilung des enteigneten Vermögens: "Ein Vorzugsrecht auf Zuteilung haben Personen, die sich im nationalen Befreiungskampf ausgezeichnet und verdient gemacht haben, insbesondere Soldaten und Partisanen, ehemalige politische Häftlinge und Deportierte und ihre Familienangehörigen und gesetzlichen Erben, wie auch durch den Krieg geschädigte Bauern."

Die Geschichtsforschung hat festgestellt, daß das von der tschechoslowakischen Regierung gemäß Präsidenten-Dekret vom 21. Juni 1945 konfiszierte landwirtschaftliche Vermögen einen Gesamtwert von hundert Milliarden Vorkriegs-Tschechenkronen hatte. Diese Summe gab der Prager Regierungssprecher am 1. Juli 1945 anläßlich einer Massenkundgebung auf dem Weißen Berg an.

Nach einer Bereicherung solchen Ausmaßes dürfte die zugesagte Entschädigung der Zwangsarbeiter für den tschechoslowakischen Staat mühelos möglich gewesen und damit ein weiterer Anspruch an Deutschland abgegolten sein. Dies um so mehr, als den Deutschen durch die Benes-Dekrete nicht nur landwirtschaftliches Eigentum in Milliardenhöhe genommen wurde, sondern auch jeder weitere materielle Besitz.

Die von dieser Enteignung betroffenen Industrie-Areale, Kohlegruben, gastronomischen Betriebe, Kur- und Tou-rismusanlagen erhöhten die bereits erzielten Milliarden-Bereicherungen um weitere Summen in ähnlicher Höhe. Immerhin verloren dadurch deutsche Eigentümer solche Objekte wie die Schichtwerke von Aussig-Schreckenstein, die Kohlereviere von Brüx und Dux, das Hotel Pupp von Karlsbad und die Kurbäder-Anlagen von Marienbad und Franzensbad, dazu noch die unter deutscher Patronage befundenen Kunst- und Kirchengüter.

Der Geschichtspolitiker nimmt von diesen Ergebnissen der Geschichtsforschung offensichtlich keine Notiz. Ihm sind die vorherrschenden Zustände in vielen Vertreibungsgebieten ebenso unbekannt wie die aus dem Jahre 1945 zitierten tschechischen Verlautbarungen und Dekret-Bestimmungen. Statt sich mit ihnen ernsthaft zu beschäftigen, signiert er Erklärungen über seine Absicht, die Beziehungen zum Vertreiberstaat "durch aus der Vergangenheit herrührende Fragen nicht belasten zu lassen" - wohlwollend begleitet von gleichgesinnten Kommentatoren, denen die Kenntnis der Dokumente gleichermaßen abgeht. Diese Wissenslücken füllt er oft mit Ermahnungen an die Vertrei-bungsopfer, den "Versöhnungsprozeß" nicht zu stören und in die Zukunft zu schauen. Die auf ihr Eigentumsrecht beharrenden Ostvertriebenen wurden gar "Ewig-Gestrige" gescholten - eine Entgleisung, die gegenüber NS-Opfern vor den Richterstuhl führen würde.

Deutschen Nachkriegsopfern sind sie offenbar folgenlos zumutbar. Wohl nicht ausschließlich aus bösem Willen oder niedrigem Populismus, um zu verletzen oder sich als Gutmensch zu profilieren. Vielfach wohl auch aus Ignoranz oder Halbwissen - etwa aus Unkenntnis über Anliegen und Inhalt des Lastenausgleichs, den Geschichtspoli-tiker oft mit Entschädigung verwechseln und deswegen die Heimatvertriebenen für längst "abgefunden" halten.

In Wahrheit ersetzte das Lastenausgleichsgesetz nicht das von Polen und der Tschechoslowakei konfiszierte deutsche Milliardeneigentum, sondern suchte die im Gefolge seines Verlustes für die Betroffenen aufgetretenen Nöte durch gewährte Start- und Soforthilfen zu lindern. Die gesetzliche Begrenzung der vorgesehenen Hilfen auf maximal 60.000 Mark machte den Unterschied zwischen "Entschädigung" und "Ausgleich" deutlich.

Außerdem weisen auch die verschiedenen Termini technici des Lastenausgleichsgesetzes auf seine ausschließliche Beistandsfunktion hin. Da ist von "Hausratshilfe", "Ausbildungshilfe", "Soforthilfe" oder "Aufbaudarlehen" die Rede, jedoch nie von einer Abfindung für den erlittenen Verlust.

Daß sich die deutschen Heimatvertriebenen mit Hilfe dieser gewährten Finanzmittel im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte emporgearbeitet und es auch zu Wohlstand gebracht haben, verleitet dann ignorante Geschichtspolitiker zu der Annahme, die Vertriebenen seien bereits entschädigt worden und erhöben jetzt nur noch aus purer Raffgier Wie-dergutmachungsforderungen an die un-gleich ärmeren Vertreiberländer. Und das, obwohl Polen und Tschechen doch auch ihrerseits Menschen-, Land- und Vermögensverluste hätten hinnehmen müssen.

Dabei übernehmen deutsche Ge-schichtspolitiker unkritisch deren Angaben und halten sie in Kommentaren und auf Kundgebungen sudetendeutschen Heimatvertriebenen vor. Gegenteilige Zeitzeugnisse und Forschungsergebnisse werden von ihnen entweder nicht zur Kenntnis genommen oder als "Revanchismus" verdächtigt: Verhal-tensformen, die Geschichtsforscher ertragen müssen, wenn sie sich von ihrem wissenschaftlichen Auftrag nicht verabschieden und als Nachfolger Rankes abdanken wollen. In dieser Frontstellung steht Geschichtspolitik in der Tat oft gegen Geschichtsforschung. Zeitgeist und öffentliche Stimmungsmache verübeln dem Geschichtsforscher nicht selten schon das kritische Hinterfragen kolportierter ausländischer Angaben. "Totengebeinzähler" und "Verharmloser" lauten die dabei schnell erhältlichen Beinamen.

 

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Im Unterschied zum Geschichtspolitiker gebietet der Geschichtsforscher nicht über medienstarke Hilfstruppen. Seine einzige Verbündete ist die geschichtliche Wirklichkeit, die alle Angriffe der Zeitgeister übersteht.

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Tatsache ist, daß von den 2000 nochmals in Regreß genommenen deutschen Unternehmen viele bereits 1945/46 auf der Reparationsliste der Sieger standen bzw. sich namentlich angeführt fanden in einem "Programm" der amerikanischen Regierung "zur Zerstörung der Wirtschaftsbasis deutscher Aggressionen mit dem Ziele der Sicherung gegen einen neuen, von Deutschland veran-laßten Krieg". Ihre Beispiele reichen von Bayer über Mannesmann bis Schering. Sie sollten entweder zerstört oder "in andere Länder transferiert werden", wie es in der Regierungsvorlage für den zuständigen Senatsausschuß vom 26. Juni 1945 hieß.

Den unstreitbar größten Gewinn zo-gen die Amerikaner jedoch aus den erbeuteten Unterlagen der deutschen Waffentechniker und Raketenforscher. Ein Sachverständiger ihrer Air Force gab den Vorsprung der Deutschen auf dem "Gebiet des Raketenantriebs und gesteuerter Wurfgeschosse" mit "mindestens zehn Jahren" an. In Kombination mit den "dazu gehörigen" Wissenschaftlern waren die Amerikaner dann bekanntlich früher imstande, in der Weltraumfahrt führend zu werden - langfristige "Reparationsgewinne", die das 1945 verkündete Nahziel der Abrüstung Deutschlands bei weitem überstiegen und in Heller und Pfennig gar nicht ausgedrückt werden können.

Nicht von ungefähr waren von 1945 bis 1946 bis zu 500 Personen damit beschäftigt, Tonnen von deutschem Ge-heimmaterial zu sichten. Allein in Höchst hatten die Beauftragten von General Clay einhundert "Auswerter" eingesetzt, welche für 40 Aufnahme-Kameras die Akten herrichteten: Vorgänge, die dem Geschichtsforscher bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der deutschen Nachkriegszeit bekannt werden - die der "Geschichtspolitiker" von heute jedoch nur bedingt bekanntgemacht sehen möchte. Seine Furcht vor einem möglichen Anti-Amerikanismus als Folge solcher Kenntnis ist größer als sein Drang nach objektiver Erhellung der Vergangenheit.

Im Unterschied zum Geschichts-politiker gebietet der Geschichtsforscher nicht über medienstarke Hilfstruppen. Seine einzige Verbündete ist die geschichtliche Wirklichkeit. Diese übersteht zwar alle Angriffe der Zeitgeister, sie vermag jedoch ihren wissenschaftlichen Zeugen vor Schaden an Ruf und Stellung nicht zu schützen. Die dokumentierte geschichtliche Wahrheit ertrinkt zwar nicht im Meer des Verschweigens und Verdrängens, sie geht jedoch manchmal in ihm für einige Zeit unter.

Umgeben und dominiert von solchen Zeitgenossen gilt für den Geschichtsforscher mehr denn je, was Hellmut Diwald 1989 zu beherzigen gab: "Wer die Zeitgeschichte erforscht, trägt seine Haut zu Markte. Urplötzlich werden von dem vermeintlich selbstvergessen arbeitenden Historiker Eigenschaften verlangt, die man eher bei den Angehörigen waghalsiger Berufe voraussetzt, etwa bei Seiltänzern, Stierkämpfern oder dem Begleitschutz für Geldtransporte. Zeitgeschichtsforschung in korrekt wissenschaftlichem Sinn verlangt bei uns Mut, Unbeirrbarkeit, kategorische Wahrheitsliebe und Entschlossenheit, sich durch keine Forderungen des politisch Zutunlichen korrumpieren zu lassen."

 

Dr. Alfred Schickel ist Gründer und Leiter der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI). Der hier veröffentlichte Text basiert auf einem Vortrag, den er im November 2004 auf der Herbsttagung der ZFI gehalten hat. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über den Morgenthau-Plan (JF 40/04).

 

Bild: René Magritte, "Les figures de nuit" (Die Gestalten der Nacht), 1927:


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