© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/05 11. März 2005

Alltag in den "wiedergewonnenen Gebieten"
Hans Lembergs und Wlodzimierz Borodziejs Dokumentensammlung belegt die Polonisierung Ostdeutschlands
Adolf Fiedler

Der 806 Seiten umfassende Band über das Schicksal der Ostdeutschen zwischen 1945 und 1950 ist nach regionalen Gesichtspunkten in zwei Teile gegliedert: in die Wojewodschaften Pommerellen und Danzig (Westpreußen) und die Wojewodschaft Breslau (Niederschlesien). Jeder dieser beiden Teile enthält eine Einleitung und ausgewählte und bearbeitete Dokumente, die Aussagen zur Lage der Deutschen in diesen Regionen zwischen 1945 und 1950 umfassen.

Der erste Teil ist bearbeitet von Ingo Eser und Withold Stankowski, der zweite von Claudia Kraft und Stanislaw Jankowiak. Die Herausgeber haben sich offensichtlich bemüht, die deutsche Ausgabe möglichst eng der polnischen anzugleichen. Nach den Hinweisen der Herausgeber im Vorwort (Benutzungshinweise) sind in der vorliegenden deutschen Ausgabe einige Dokumente aufgenommen, die in der polnischen Fassung fehlen; diese sind in Übersetzung abgedruckt und haben die bisher nicht verwendeten Numerierungen erhalten. Für die allgemeinen Informationen zu den Kriterien der Auswahl der Dokumente und den editorischen Prinzipien wird auf die "Vorbemerkung der Herausgeber" zum ersten Band verwiesen.

In der hier vorliegenden deutschen Version des Bandes 4 werden die Ortsnamen in den Dokumenten in der Regel in polnischer Sprache angegeben, um die Authentizität des Schriftstückes zu wahren. Zwecks besserer Identifizierung durch den deutschen Leser sind jedoch die deutschen Namen dahintergesetzt; teilweise erscheinen auch die polonisierten deutschen Namen. In den Einleitungen, die einen knappen Überblick über die betreffenden Territorien und deren geschichtlicher Entwicklung geben, werden grundsätzlich die deutschen Ortsnamen verwendet, bei deren erster Nennung wird der heute polnische Name in Klammern beigefügt. Außerdem ist am Schluß des Bandes zwischen Personen- und Sachregister ein deutsch-polnisches und polnisch-deutsches Ortsnamensverzeichnis eingefügt. Diese Handreichungshilfen verhelfen dem Leser zu einer schnellen und guten Übersicht. In einer Kartentasche am Schluß des Buches ist eine Landkarte beigefügt, die der geographischen Orientierung des Lesers dienen soll. Sie enthält im wesentlichen Namen der Kreisstädte in polnischer Sprache, wenn vorhanden, ist der deutsche beigefügt. Außerdem sind dieser Karte die im Jahre 1946 geschaffenen Wojewodschaftsgrenzen zu entnehmen.

In den Überschriften zu den einzelnen Dokumenten werden in der Regel die Originalbegriffe verwendet, um auch hier die Authentizität zu wahren. Dies entspricht jedoch sehr oft nicht dem deutschen Sprachgebrauch, wie "Repatriierung" für Vertreibung oder Aussiedlung oder "Repatriant" für Vertriebener oder Aussiedler oder wenn von "wiedergewonnenen Westgebieten" oder gar von "unseren Brüdern, den Westslawen, die von den Germanen mit Feuer und Schwert verdrängt worden sind" (Dokument Nr. 158) gesprochen wird.

Der Gebrauch dieser Begriffe in einem Originalschriftstück ist durchaus korrekt, es stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht im Interesse des weniger fachkundigen Lesers angebracht wäre, hier in einer Fußnote einen erklärenden Hinweis zu geben, daß in dieser Terminologie das polnische Geschichtsbild über die ehemals deutschen Ostgebiete tradiert wird; vielleicht scheint es auch ratsam, hinzuzufügen, inwieweit diese die historische Wirklichkeit entstellende Version der Geschichte zum Beispiel Schlesiens noch heute das polnische Geschichtsbild prägt. Man denke nur an so manche Äußerung im Zusammenhang mit dem Streit um die Errichtung einer Gedenkstätte gegen Vertreibungen. Für die Auswahl der Dokumente waren nach Angaben der Herausgeber drei Kriterien ausschlaggebend: zum einen der chronologischer Gesichtspunkt, zweitens geographische und ökonomische Kriterien und drittens sachliche Aspekte.

Nach 1990/1991 haben Ereignisse wie der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien das Thema "ethnische Säuberungen" in die öffentliche Diskussion gebracht, die bis dahin öffentlich überhaupt nicht bewußt gewesen sind. Zur gleichen Zeit erfolgte in den östlichen Nachbarstaaten Deutschlands, so auch in Polen eine Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, die das Tabu der Vertreibung der Deutschen zwischen 1945 und 1948 abbaute. Auch setzte nach dem Grenzanerkennungsvertrag vom 4. Oktober 1990 und dem Deutsch-Polnischen Freundschafts- und Nachbarschaftsvertrag vom November 1990 eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern ein, so daß Formen wissenschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Historikern beider Nationen realisiert werden konnten. Ein Produkt dieser Möglichkeit ist vorliegende Reihe. Gefördert wurde diese Arbeit von der Stiftung Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der Robert-Bosch-Stiftung.

Die Dokumentationen im vorliegenden vierten Band dieser Reihe enthalten - wie bereits die vorausgehenden Bände - Akten und Schriftstücke derjenigen polnischen Stellen und Personen, welche die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Danzig, Pommerellen und Niederschlesien vorbereitet, organisiert und durchgeführt haben.

Hierbei wird die damals aktuelle polnische Sicht der mit der Vertreibung der Deutschen befaßten Personen und Organe sichtbar. Es sind dies Behörden und Leiter der Wojewodschaften, Kreise und Städte, Militärs, Parteiorgane und Sonderverwaltungen auf gesamtstaatlicher wie regionaler Ebene. Diese Publikation ist als Gegenstück zu den bereits in den fünfziger Jahren erschienenen Erlebnisberichten deutscher Vertriebener (die von Theodor Schieder herausgegebene Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa) gedacht, die deren Sicht dieser Ereignisse darstellen. Die Auswahl der Schriftstücke ist so gestaltet, daß auch Verbrechen und Mißhandlungen an Deutschen erwähnt werden. Öfter wird auch in Berichten polnischer Behörden an Regierungsstellen in Warschau von der dominierenden Stellung sowjetischer Militärs berichtet. Diese Verhältnisse zeigen deutlich, daß den Deutschen die "Heimat ein fremdes Land" geworden ist, das heißt die Lebensumstände dort kaum mehr erträglich waren.

Die Dokumentation umfaßt 309 Berichte, Befehle, Anordnungen, Rundschreiben, Protokolle, Meldungen und amtliche Schreiben. Diese geben einen anschaulichen Einblick in die eingeschränkten Lebensumstände der deutschen Bevölkerung, deren materielle Not und existenzielle Unsicherheit im besagten Zeitraum und über Umstände und Vorgänge während der Vertreibung der deutschen Bewohner dieser Gebiete. Sowjetische Soldaten, polnische Milizen und Behörden, nach Niederschlesien zurückkehrende deutsche Flüchtlinge, polnische Umsiedler aus Zentralpolen aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie, Autochthone treffen aufeinander und prägen das Leben. In einigen Dokumenten wird auch die unsichere ethnische Zugehörigkeit von Menschen sichtbar.

Nach der Absicht der Herausgeber soll die vorliegende Quellensammlung - dies gilt für alle vier Bände - nicht anklagen, sondern durch Einsicht in die Verhaltensweisen, Mentalitäten und Probleme, die Menschen damals auf allen beteiligten Seiten gezeigt haben, zum Ausgleich der Spannungen im vergangenen deutsch-polnischen Verhältnis beitragen. Dies dürfte ein hoffnungsvolles Unterfangen sein.

Wlodzimierz Borodziej, Hans Lemberg (Hrsg.): "Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden." Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven, Band 4/IV, aus: Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas. Verlag Herder Institut, Marburg 2004, 806 Seiten, broschiert, 78,00 Euro

Foto: Ostdeutsche auf dem Weg nach Westen, Pommern 1945: Vertreibung wird in polnischen Dokumenten als "Repatriierung" bezeichnet


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