© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/05 11. März 2005

Jenseits der Realität
Politische Klasse: Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland immer neue Rekorde erreicht, schreiben sich Regierung und Opposition Briefe
Paul Rosen

Die Realität ist längst über die Berliner Politiker hinweggegangen. Während sich Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Oppositionsführung noch darüber streiten, unter welchen Bedingungen sie zum Kaffee im Kanzleramt zusammentreffen können, schnellte die Zahl der Arbeitslosen auf über fünf Millionen hoch. Diejenigen, die noch Arbeit haben, erleben das Aufblühen des Machester-Kapitalismus, der sie für weniger Geld länger arbeiten läßt. Und wer mit 45 Jahren seinen Job verliert, hat kaum noch Aussicht auf Wiedereinstellung, sondern fällt in ein tiefes Loch namens Hartz IV.

Viele Bürger sind es leid, Sprechblasen zu hören

Und was machen Schröder, Angela Merkel und Edmund Stoiber? Sie schreiben sich gegenseitig Briefe, stellen Bedingungen für Gespräche. So heißt es im Brief der Unionsspitze an den Kanzler, ein solches Gespräch könne nur dann mehr sein als eine freundliche Unterhaltung, wenn es "auf der Grundlage von beratungsfähigen Gesetzentwürfen" erfolgt. Genannt wurden Bürokratieabbau, Steuersenkungen und die Reduzierung von Sozialbeiträgen besonders in der Arbeitslosenversicherung. Schröder wiederum konterte: "Wer seine Dialogbereitschaft in dieser Weise konditioniert, setzt sich dem Verdacht aus, ein Spiel weiterspielen zu wollen, dessen die Menschen in diesem Land angesichts der drängenden Probleme längst überdrüssig sind."

Der Überdruß ist da. Viele Bürger sind es leid, aus Berlin von allen Fraktionen stets die gleichen Sprechblasen zu hören. Mal fordert die Opposition Steuersenkungen, dann sind diese Töne von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) zu hören. Einmal wollen die Grünen den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senken, dann schlägt die Union in diese Kerbe. Die Reformen von Rot-Grün gestalten nur die Verwaltung der Arbeitslosen um. Doch wohin soll ein 50jähriger noch vermittelt werden, wenn in Deutschland jeden Tag über tausend sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wegfallen? Die neuen Brieffreundschaften haben nur einen Hintergrund. Beide Seiten wollen mit Inszenierungen vom eigentlichen Problem der Massenarbeitslosigkeit ablenken. Denn längst sind auch frühere Wohlstandsinseln wie Bayern in den Sog des Abwärtsstrudels geraten. Die Arbeitslosigkeit im Freistaat ist auf neun Prozent gestiegen. Da liegt es auch für Stoiber nahe, mit Inszenierungen von den schlechten Zahlen abzulenken. Und Schröder ist für Gipfeltreffen, Hochwasser, Friedensdemonstrationen und Katastrophen aller Art, die seine magere Bilanz verdecken, immer gerne zu haben. So schaukelt man sich gegenseitig hoch und freut sich, daß das Presseecho andere Negativbotschaften verdeckt.

Regierung und Opposition sind sich nicht einmal über die Themen einig. Der Kanzler verlangte, über die Abschaffung der Eigenheimzulage und über Spitzenuniversitäten zu sprechen. Beides sind keine zentralen Probleme Deutschlands. Eine Abschaffung der Eigenheimzulage würde die Bauwirtschaft schwer treffen. In der Bildungspolitik haben alle Parteien im letzten Jahr bewiesen, daß sie nicht in der Lage waren, die Bildungspolitik im Rahmen der Föderalismusreform auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Stoibers und Merkels Forderungen nach Steuerreform sind nicht durchgerechnet und mit den Unionsvorstellungen zur Gesundheitsreform nicht kompatibel. Die Opposition weiß nicht, was sie will, und Schröder weiß nicht mehr, was er machen soll.

Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) hat kürzlich interessante Zahlen genannt. Danach sind in Deutschland von 80 Millionen Einwohnern noch 26 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das heißt: Die Wertschöpfung eines Arbeitnehmers wird dazu benötigt, um zwei andere Menschen über Wasser zu halten. Daß das dauerhaft funktioniert, werden nur Wolkenkuckucksheimer behaupten. Realistischer dürfte eine andere Prognose sein: Wenn sich nicht bald Mehrheiten für die Lösung der Probleme finden, werden die Deutschen andere Mehrheiten wählen.


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