© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/05 04. März 2005

Der lange Arm von Erich Mielke
Ein Vortrag zeigte anhand konkreter Beispiele auf, wie intensiv die Stasi im Westen überwachte, manipulierte und selbst mordete
Ekkehard Schultz

Wie intensiv das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht nur die eigenen Bürger in nahezu allen Lebensbereichen bespitzelte und überwachte, sondern seine Hand auch über die engen Grenzen Mitteldeutschlands ausstreckte, ist in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre bereits behandelt worden. Dennoch wird bis heute das Thema "Stasi im Westen" meist gemieden. Immer noch erscheint es vielen zu pikant, sich auch in Westdeutschland intensiv mit den MfS-Verstrickungen in Medien, staatlichen Behörden, Parteien, Organisationen und Unternehmen auseinanderzusetzen. Dabei sind viele Spitzel, Zuträger und Helfer des MfS bis heute häufig unerkannt in mittleren und höheren Positionen beschäftigt. Teilweise genießen sie immer noch das Vertrauen von arglosen Zeitgenossen, über die sie jahrelang auch private und intime Informationen im Auftrag Ost-Berlins geliefert haben. Ihre verbrecherische Tätigkeit übten sie - im Gegensatz zu einer Reihe von Informellen Mitarbeitern (IM) in der DDR, die mit Erpressungsversuchen vom MfS zur Mitarbeit bewegt wurden - in der Regel freiwillig und aus niederen Beweggründen aus.

Um so höher ist die Bedeutung von Aufklärungsveranstaltungen hierüber einzuschätzen, wie sie vor zehn Tagen im Mauermuseums am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie stattfand. Der von der Museumsleiterin Alexandra Hildebrandt geleitete Vortrag von Wolf Deinert und Gerhard Ehlers beschäftigte sich mit einer Fortsetzung der Verfolgung durch das MfS, nachdem die beiden ehemaligen DDR-Bürger in den siebziger Jahren von der Bundesrepublik freigekauft worden waren. Wer sich mit der Ausreise oder der geglückten Flucht in den Westen dem Einfluß des MfS endlich erfolgreich entzogen glaubte, befand sich in einem verhängnisvollen Irrtum. Gerade ehemalige Dissidenten standen auch weiterhin im Fadenkreuz des Mielke-Imperiums; insbesondere dann, wenn sie mit DDR-kritischen Organisationen Kontakt aufnahmen oder sich gar darin aktiv wurden. Das MfS konnte nicht nur in Westdeutschland und den Westsektoren Berlins, sondern in ganz Europa auf ein nahezu flächendeckendes Netz von Spionen, Zuträgern und Kriminellen zurückgreifen, deren Repertoire von der planmäßigen "Zersetzung" über die Entführung bis zum Mord reichte, wie der heute promineneteste Fall des 1983 von der Stasi ermordeten ehemaligen DDR-Fußballprofis Lutz Eigendorf zeigte.

Nach ihrem Freikauf durch die Bundesrepublik kamen Deinert und Ehlers Mitte der siebziger Jahre in den Westteil Berlins. Politisch sahen beide ihre Heimat in der SPD, der sie auch bald beitraten. Doch sie mußten bald erkennen, daß innerhalb ihrer Partei die klare Ablehnung der Diktatur in Mitteldeutschland als "Störung" der Entspannungspolitik galt. Besonders bei den Jusos gab es klare Affinitäten zu Ost-Berlin, deren führende Mitglieder sogar an Kongressen der SED und anderer DDR-Massenorganisationen teilnahmen. Ernüchtert von solcherart frustrierenden Erfahrungen suchten sie daher Kontakte zu anderen ehemaligen Mitteldeutschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, um mit ihnen jenseits aller parteilichen Präferenzen einen freien Gedankenaustausch zu pflegen und eine Zusammenarbeit von DDR-Opfern mit anderen Opfern der Diktaturen in Osteuropa zu ermöglichen.

Doch bevor 1979 der "Selbsthilfeverein ehemaliger DDR-Bürger e.V." überhaupt gegründet wurde, war er bereits längst in das Visier des MfS geraten. Unverzüglich legte dieser einen Operativplan mit dem Namen "Konföderation" an. Am 22. Juli 1979 - einige Tage vor der Gründung - wurde die Akte angelegt und der erste Bericht verfaßt. Zur Begründung des Operativplanes, an dessen Erstellung und Ausführung mindestens vier unterschiedliche MfS-Einrichtungen beschäftigt waren, diente allein der Verweis, daß sich der Kreis aus Personen zusammensetze, die wegen ihrer "feindlich-negativen Haltung aus der DDR ausgewiesen" worden seien. Damit sei zugleich auch der Charakter der Neugründung offenbar und es bestehe die Notwendigkeit, dessen "feindliche Wirkung auf die DDR" abzuwehren.

Nicht nur der aktivste Kreis wurde intensiv bespitzelt, Fotos und private Informationen jeglicher Art gesammelt und selbst Einzelheiten der Wohnung und der Wohnumgebung ermittelt. Es gelang dem MfS auch, mindestens zehn Personen der während seiner Existenz aus maximal fünfzig Personen bestehenden Gruppe als IMs entweder in die Organisation einzuschleusen oder als Mitglieder des Kreises zur Mitarbeit zu gewinnen. Zu den anhand der Akten nach 1989 ermittelten Spitzeln zählte der Rechtsanwalt des Vereins, der für die Erstellung der Satzungen zuständig war und den Verein in juristischen Angelegenheiten vertrat. Zur gezielten Zersetzung wurden im Auftrag des MfS Rundfunk und Presse wie dem RIAS, der BZ, der Süddeutschen Zeitung sowie der Frankfurter Rundschau Informationen zugespielt, die einige Vertreter des Vereins als kriminelle Subjekte ausweisen sollte, da diese Medien schon über die Gründung des Vereines berichtet hatten.

Aufgrund der erfolgreichen Zerstörungsarbeit des MfS, der eine geordnete Tätigkeit zunehmend unmöglich gemacht hatte, wurde der Verein im Sommer 1982 aufgelöst. Viele Mitglieder hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits frustriert und demotiviert zurückgezogen. Aktivitäten gingen fast nur noch von MfS-Spitzeln und den von ihnen beeinflußten Personen aus. Doch auch nach der Auflösung verfolgte das MfS für weitere eineinhalb Jahre die Spur der Mitglieder weiter. Erst am 8. Februar 1984 wurde endgültig die Akte, und damit auch der Operative Vorgang Konföderation geschlossen.

Foto: Ex-DDR-Fußballer Lutz Eigendorf mit Frau in der Bundesrepublik 1982, als Spieler des BFC Dynamo in Ost-Berlin (kl. Foto): Viele West-Spitzel des MfS sind bis heute unerkannt in alten Positionen beschäftigt


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