© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/05 04. März 2005

Moral war nie der Antriebsfaktor
Helmut Roewers Werk über die deutsch-russischen Geheimdiensttätigkeiten im zwanzigsten Jahrhundert
Wolfgang Welsch

Das Buch über "die Machenschaften der Geheimdienste in Rußland und Deutschland" beginnt mit einem Bericht über die militärpolitische Planung und Lage des deutschen Kaiserreiches am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Diese sei durch eine aggressive, auf Expansion gerichtete Außenpolitik geprägt gewesen, welche jedoch auf eine gleichartig voranschreitende Spionagetätigkeit weitgehend verzichtete. Für die deutschen Militärexperten sei Spionage ein schmutziges Geschäft von Verrat und Gegenverrat gewesen. Dabei hätten sie wissen müssen, daß den militärischen Erfolgen von Helmuth von Moltke (dem Älteren) eine intensive Spionage vorangegangen war. Anstatt die notwendigen personellen und materiellen Voraussetzungen für eine deutsche Militärspionage zu schaffen, verließ man sich auf die scheinbare Genialität des Schlieffenplans für den sich abzeichnenden Zweifrontenkrieg gegen Rußland und Frankreich, so der Autor Helmut Roewer, ehemaliger Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes. Er bezeichnet die Gründe, warum die deutsche Staatsführung unter Wilhelm II. falsche Schlüsse für eine Auseinandersetzung mit Rußland zog. Im Zusammenhang damit auch den Zustand des potentiellen Kriegsgegners Rußland und seiner Geheimpolizei Ochrana, sowie auch den der verbündeten Donaumonarchie.

Neben damaligen, Aufsehen erregenden Spionagefällen, beschreibt Roewer kenntnisreich die Vorbereitungen des Krieges auf Seiten der späteren Kombattanten und belegt eindrucksvoll, wie belanglos der Gewinn der Schlacht bei Tannenberg war, und wie wenig Einfluß er auf die russische Militärstrategie, als auch auf den Ausgang des Krieges überhaupt hatte. Daß unter den von ihm beschriebenen Voraussetzungen überhaupt so etwas wie Militärspionage gelingen konnte, war der Hartnäckigkeit und Heimlichkeit einiger weniger Offiziere zu verdanken, mit denen er sich fortlaufend beschäftigt.

Mit den blutigen Aufständen in den Petrograder Putilow-Werken überschritt im Juli 1915 die rote Sonne der Revolution den Horizont. Spannend wird der Beginn der Oktoberrevolution und die Rolle Lenins beschrieben. Schon im August 1914 fanden Gespräche zwischen Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und des Reichskanzlers statt, in denen der Gedanke der Revolutionierung Rußlands entstand, der Sturz des Zaren, und das Herausbrechen Rußlands aus der Riege der Kriegsgegner. Er mündete in die Finanzierung der Bolschewiki unter Lenin. Das monarchistische Deutschland stürzte die Nachbarmonarchie mit Hilfe sozialistischer Revolutionäre.

Mit Entsetzen betrachtete die russische militärische Spionageabwehr nur wenig später den auf das russische Machtzentrum zurollenden Transport Lenins. Der militärische V-Mann-Führer in der deutschen Gesandtschaft Stockholm meldete telegrafisch an die Stellvertretende Abteilung III b in Berlin: "Lenin Eintritt in Rußland geglückt". Kurz darauf putschte er sich an die Macht. Von dort drängte er auf die Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit Deutschland. Er ahnte, daß einem deutschen Einmarsch in Petrograd der Sturz seiner Regierung folgen würde. Am 3. März 1918 war der Krieg an der Ostfront des Deutschen Reiches zu Ende.

Während des Kalten Krieges verzichtete die sowjetische Geschichtsschreibung darauf, auf die deutsche Mitverantwortung bei der Installierung des Sowjetsystems aufmerksam zu machen. Die "Tscheka" und ihre Nachfolgeorganisationen sollten die folgenden achtzig Jahre Synonym für die bolschewistische Machtausübung werden. Das galt auch für die Nachahmer in den Satellitenstaaten der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Genau, pointiert und durch präzise Quellen gestützt, verfolgt der Autor die Bewegungsspiele deutsch-russischer Geheimdienste.

In einem weiteren Kapitel seiner 667 Seiten starken Untersuchung, die sich so spannend wie ein Polit-Thriller liest, besichtigt er die Revolutionierung Deutschlands mit allen Begleiterscheinungen. Sie scheitert bekanntermaßen. Ausführlich und in Einzelheiten beschreibt der Autor die Aktivitäten des kommunistischen Apparates gegen die bewaffnete Macht des Weimarer Staates. Gegen den ebenso skrupellos die kaum gefestigte Demokratie bekämpfenden Gegner - die Nationalsozialisten - konnten sich die deutschen Genossen formieren, aber nicht durchsetzen.

Währenddessen begann der Aufstieg der Sowjetunion. Auch hier beschreibt der Autor akribisch die Pfade deutsch-sowjetischer Ausspähung. Die interessante Aneinanderreihung verschiedener Vorgänge und Einzelschicksale im Kontext eines ausufernden Spionagegeschäftes ist der intensiven Recherche zu verdanken, dem keine entscheidende Bewegung der ständig wechselnden, historischen Protagonisten entgeht. Er prüft und enträtselt geöffnete Akten und entreißt die Akteure eines klandestinen deutsch-sowjetischen Zusammenwirkens der Vergessenheit. Mit deutschem Kapital und deutschen Firmen wurde die Waffenentwicklung und Produktion auf russischem Gebiet ermöglicht, und damit die Demilitarisierung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg faktisch unterlaufen. Vom Röhm-Putsch in Deutschland bis zur Tuchatschewski-Intrige in der Sowjetunion durchleuchtet Roewer mit geheimdienstlicher Genauigkeit die Winkelzüge der Potentaten und pendelt zwischen Legenden und Realitäten. Der Hitler-Stalin-Pakt war das äußere Zeichen, durch das sich die beiden schlimmsten Diktatoren der jüngeren Geschichte militärisch in einer bisher nie da gewesenen Weise verbündeten, um die Welt unter sich aufzuteilen. Im letzten Kapitel seines aufregenden Buches beschreibt der intime Kenner geheimdienstlicher Unternehmungen die militärischen Vorbereitungen des deutschen OKW zum Unternehmen "Barbarossa", das für die russische Seite längst keine Überraschung mehr war. Er geht der Frage nach, warum Stalin nicht reagierte. Der Autor beantwortet sie gewohnt souverän, indem er einen letzten Zeugen benennt.

Jeder, der sich für die Materie interessiert, sollte zu diesem Buch greifen. Die Skrupellosigkeit der historischen Akteure ist kaum zu übertreffen. Bemerkenswert ist auch der immense Anhang. Auf mehr als hundert Seiten belegen Quellen und Erklärungen die intensive Recherchearbeit des Autors.

Foto: Lenin inmitten der Menschenmenge bei seiner Ankunft am Petrograder Bahnhof im Mai 1917: Von der russischen militärischen Spionageabwehr mit Entsetzen betrachtet

Helmut Roewer: Skrupellos. Die Machenschaften der Geheimdienste in Rußland und Deutschland. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2004, 750 Seiten, gebunden, 29,90 Euro


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