© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/05 04. März 2005

Zweifler sind kein Unglück
Poet, Philosoph, Papst: Johannes Paul II. hat sein literarisches Vermächtnis vorgelegt
Günter Zehm

Päpste, die dichten oder sich - über ihre seelsorgerischen, theologischen und politischen Geschäfte hinaus - als Schriftsteller oder Wissenschaftler betätigen, sind selten. Päpste waren meistens ausgesprochene Augenmenschen, Bildermenschen. Päpstliche Nebentätigkeiten erstreckten sich folglich eher aufs Sinnlich-Anschauliche: Baumeisterei, Kunstförderung, Luxuswaffen, Exerzier-Design.

Pius II. immerhin, 1405 bis 1464, schuf wundersame Sonette im Stile Petrarcas und erotische Novellen. Der famose Silvester II., 940 bis 1003, besser bekannt als Gerbert von Aurilliac, übersetzte arabische Texte und brillierte als Mathematiker. Johannes XXI., 1215 bis 1277, war ein großer Augenarzt und schrieb das Standardwerk "Liber de oculo".

Keiner indes reicht in literarischer Hinsicht an den gegenwärtigen Papst Johannes Paul II. heran. Als Poet, Stückeschreiber und Philosoph hat er Erkleckliches geleistet, und obwohl nun in ehrwürdigem Alter und von schwerer Krankheit gezeichnet, läßt seine Produktivität nicht nach. Im vergangenen Jahr erschien von ihm ein veritabler Gedichtband, jetzt folgt das Buch "Erinnerung und Identität", eine Art Bilanz seiner theologisch-philosophischen Einsichten und über weite Strecken eine höchst konkrete, faszinierende und berührende Auseinandersetzung mit den Denkern der Neuzeit, von Descartes bis Max Scheler, von Kant bis Jean-Paul Sartre. Das öffentliche Aufsehen ist beträchtlich, und es besteht zu recht.

Ignorieren kann man das Gezeter über die angebliche "Verharmlosung des Holocaust", derer sich Johannes Paul II. schuldig mache, indem er das Wort "Holocaust" als Metapher nahelegt, um seinen Standpunkt in der Abtreibungsfrage zu verdeutlichen. Seit wann ist es verboten, machtvolle, sinnträchtige Wörter als Metaphern zu benutzen? Außerdem gibt es hier gar nichts zu verbieten; Metapherbildung ist ein der Sprache innewohnender Naturprozeß, der sich spontan und gleichsam naturwüchsig der jeweiligen Superwörter bemächtigt. Der Kampf dagegen ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel.

Ernster zu nehmen ist die sichtliche Betroffenheit hier und da über die Unverblümtheit und anklägerische Wucht, mit der Johannes Paul II. die abendländische Philosophie seit der frühen Neuzeit und der Aufklärung für die totalitären Übel, die ihnen folgten, verantwortlich macht. Diktatur im Namen eines vermeintlich "Neuen Menschen", Völkermord, Vertreibung, Umweltzerstörung - all das sei direkter Ausfluß entfesselter Gottvergessenheit, und gebahnt worden sei die Höllenfahrt von "Descartes & Co.", die das Menschsein auf bloßes Macherkalkül verkürzten, dem Menschen die Seele und den metaphysischen Sinn raubten und ihn in einen blinden Machbarkeitswahn hineintrieben.

Die Bedenken mancher Rezensenten gegen solche Donnerworte laufen darauf hinaus, daß Johannes Paul II. "vielleicht ein bißchen zu pauschal argumentiert". Er schreibe hier ja nicht als Papst, der ein Dogma zelebriert, sondern als philosophischer Schriftsteller; jedes literarische Werk indes lebe von Spannung, Entfaltung der Widersprüche, Tanz der Farbnuancen. Auch das Buch "Erinnerung und Identität" sei nicht automatisch von liturgischer Aura umglänzt, müsse sich gewissermaßen ganz nüchtern an inhärenten Gesetzen des Genres messen lassen.

Teile des Buches sind als Dialog angelegt, als Gespräch des Autors mit zwei Freunden aus alten Tagen. Aber tatsächlich sind es keine Platonschen Dialoge, wo geistige Klingen gekreuzt und divergierende Standpunkte gegeneinander abgewogen werden. Die Redenden sind sich von vornherein einig, so daß sich beim Leser bald so etwas wie Verdrießlichkeit einstellt. "Wie verhält es sich mit dem Herrn Descartes denn nun wirklich?" so fragt er sich, "warum läßt man ihn nicht einmal selbst zu Wort kommen?"

"Cogito, dubito, ergo sum" lautete Descartes‚ berühmte Grundformel, "ich denke, ich zweifle, also bin ich". Der Papst hält das für die Unheilsformel schlechthin. Gott verschwinde darin vollständig, schrumpfe zusammen zu einer Art Bewußtseinsdifferential. Aber stimmt das denn? Gibt es dazu nichts weiter zu sagen?

Für Descartes, den Jesuitenschüler (1596-1650), war Gott sein Leben lang eine feststehende, außerindividuelle Größe, unverbrüchlicher Bezugspunkt aller geistigen Unternehmungen. Nur, um überhaupt ein Verhältnis zu Gott zu gewinnen, mußte er, Descartes, wie alle übrigen Menschen auch, sich erst einmal selber definieren, gleichsam einen archimedischen Haltepunkt gewinnen, und er fand diesen Punkt im Denken und im Zweifel.

Daran ist an sich nichts Gottvergessendes. Auch der hl. Augustinus, für Johannes Paul II. ein erstrangiger Argumentationshelfer, ist so verfahren. Die Formel "cogito, dubito, ergo sum" stammt von ihm, und der große Kirchenvater verweilte lange bei ihr, wendete sie hin und her, prüfte immer wieder penibel den Karat dessen, was Zweifel leisten kann.

Descartes hingegen, nachdem er sich seiner selbst im Zweifel versichert hat, wendet sich gleich wieder von ihm ab, kommt zu dem, worum es ihm eigentlich geht: zu den Zahlen, zur Algebra, zur Mathematik. Eins plus eins gleich zwei. Das ist unbestreitbar wahr, triumphiert er, daran kann man nicht zweifeln, und deshalb ist die Mathematik das Modell "klaren und distinkten Denkens".

Natürlich könnte es Gott, räumt der gläubige Descartes ein, auch anders richten, könnte uns hinterhältig auf eine falsche Fährte führen. Doch dazu ist er viel zu gütig. Die Mathematik hat immer recht, dafür steht die Güte Gottes, und deshalb ist die Mathematik, das Berechnen und schlaue Kalkulieren, ein untrügliches, uns von Gott gegebenes Instrument der Weltveränderung und der Weltbemächtigung. Indem wir mit ihm selbstgewiß und rücksichtslos operieren, kommen wir dem Geheiß aus der Bibel nach: "Macht euch die Erde untertan!"

So also begann der von Johannes Paul II. in seinem neuen Buch so eindrucksvoll beschriebene Weg in den modernen Totalitarismus. Nicht der Zweifel stand am Anfang, sondern der Nichtzweifel, die pausbackige, von keinem Zweifel angekränkelte Gewißheit, daß wir Menschen uns die Erde total untertan machen dürfen und dazu von oben sogar das genau passende Instrument in die Hand bekommen haben. Es hätte dem Papst-Buch sicher gutgetan, wenn dieser skeptische Gesichtspunkt von wenigstens einem der Gesprächspartner ins Spiel gebracht worden wäre.

Aber abgesehen davon, ist das Erscheinen von "Erinnerung und Identität" durchaus erfreulich, eine kleine Sensation auf dem Buchmarkt. Sein Verfasser, dieser Papst Johannes Paul II., mag alles mögliche sein, "Fundamentalist", "Konservativer", "Holocaust-Leugner" - eines ist er in jedem Fall und ganz bestimmt: ein Poet und grundgelehrtes Haus, ein Mann der Feder, wie es unter den Päpsten bisher keinen zweiten gegeben hat.

Johannes Paul II: Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden. Weltbild Verlag, Augsburg 2005, 223 Seiten, 14,90 Euro


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