© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/05 25. Februar 2005

Aus den Trümmern der großen Utopie
von Günter Rohrmoser

Wenn man sich heute vorstellt, daß auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges jemand gesagt hätte, daß es nach der Beendigung des Weltkonfliktes Leute gebe, die durchaus auch Vorzüge in diesem Ost-West-Konflikt und den Regelungen, denen er unterlag, entdeckt hätten, dann hätte man ihn sicher für verrückt erklärt. Die allgemeine Erwartung war, daß nach dem Ende dieses Konfliktes die Welt in eine friedliche Phase übergeht durch den Sieg einer der beiden Mächte, oder daß man sich im Prozeß der Geschichte bis zur Unverwechselbarkeit angenähert hätte und damit eine neue Phase einer friedlichen, durch die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse erfüllten Zukunft beginnen würde.

Vielleicht haben wir die Reflexion über den "dahinvegetierenden Sozialismus", wie ihn der damalige Bundeskanzler Schmidt nannte, zu früh abgebrochen und wissen deshalb nicht, was er bedeutet. Für die damalige Diskussion stand eigentlich das Urteil schon fest, ehe man überhaupt begonnen hatte nachzudenken, denn man interpretierte einen Konflikt der beiden Wirtschaftssysteme, wovon das eine an Ineffizienz gescheitert ist und das andere, das freiheitliche, marktwirtschaftliche, soziale System gesiegt hat. Das wußte man sozusagen schon vorher und hat sich bestätigt gefühlt.

Das, was erst allmählich in das Bewußtsein dringt, ist die unübersehbare und fundamentale Veränderung der gesamten Weltpolitik und -konstellation und damit die antizipierende Ahnung, daß im Verhältnis zum Bisherigen etwas völlig Neues und anderes, ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte beginnt. Und um das zu verstehen, muß man wissen, daß es dem Sozialismus ja nicht nur darum ging, an die Stelle des privatkapi-talistischen gesellschaftlichen Modells ein anderes mit anderen Zielsetzungen aber erhoffter gleicher Vortrefflichkeit und Exzellenz zu setzen.

Dieses Scheitern des sozialistischen-sowjetischen Modells, das von allen denkbaren Varianten des Sozialismus das radikalste und mit allen Mitteln eines machtvollen Staates durchgesetzte war, hat vielleicht Entscheidendes für das Selbstverständnis der Moderne, ja vielleicht der gesamten neuzeitlichen Geschichte zu bedeuten.

Wenn wir dieses fast einzigartige weltgeschichtliche Experiment im Kontext der europäischen und der neuzeitlichen Geschichte sehen, dann können wir leicht erkennen, daß die geheimsten, aber auch die manifestesten, innersten Antriebe und Aspirationen, die diesem Entwurf der modernen Geschichte eingestiftet waren, zu einer erfüllenden Verwirklichung im Sozialismus zur Debatte standen. Und zu diesen Aspirationen gehört nicht nur die endgültige Befreiung der Menschheit, sondern auch ein Sachverhalt, den vielleicht Marx am prägnantesten und auch am radikalsten formuliert hat mit dem Satz, "das Rätsel der Geschichte ist gelöst". Wenn aber das Rätsel der Geschichte gelöst ist, dann rückt zwangsläufig ihre Beendbarkeit in den Horizont. Die Lösung des Rätsels der Geschichte impliziert, ob man sich dessen inne und bewußt ist oder nicht, die These vom möglichen Ende der Geschichte.

Und was heißt Ende der Geschichte oder "Das Rätsel der Geschichte ist gelöst"? Es bedeutet das, was Proudhon in einer anderen ebenso prägnanten Formel auf den Begriff gebracht hat, die Defatalisierung des Schicksals. Das Ende der Geschichte bedeutet somit das Ende der Unterworfenheit des Menschen unter schicksalhaft ihn ereilende, über ihn verhängte und ihn zerstörende, also tragische Schicksalsschläge. Schicksalsschläge treten aber unerwartet, unvorhergesehen und unkalkulierbar ein und sind mit einem anderen zentralen Moment geschichtlicher Existenz und geschichtlichen Seins verbunden, nämlich dem Moment der Kontingenz. Die Unvorher-sehbarkeit dessen, was unbedacht und unkalkulierbar nie in die Zielsetzung menschlicher Geschichtssteuerung eingehen kann, kann alles menschliche Wollen und Denken über die Wünsch-barkeit geschichtlicher Abläufe über den Haufen werfen. Und wenn wir das Moment der Schicksalhaftigkeit und Kontingenz, das unablösbar zum Wesen der Geschichte gehört, vertiefen, stoßen wir natürlich auf das Phänomen, das die moderne Philosophie die Endlichkeit des Menschen nennt. Wenn wir es theologisch oder meinetwegen auch biblisch formulieren wollen, die Irreparabilität dessen, was mit der menschlichen Natur, sei es wo immer und wodurch immer, geschehen ist.

"Ende der Geschichte" bedeutet also den Willen, die Geschichte unter den eigenen Herrschaftsanspruch zu zwingen und nach einem vorausentwor-fenen Plan ablaufen zu lassen. Geschichte so zu inszenieren und steuernd unter Kontrolle zu bekommen, daß der Mensch damit das große Versprechen der Aufklärung, den autonomen, uneingeschränkten und unbeschädigten totalen Selbstbesitz seines Willens und seines Seins, durch das Ende der Geschichte auch tatsächlich erreichen wird. (...)

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Es kann kein Europa ohne Deutschland geben, so wie auch in Zukunft kein Deutschland ohne Europa. Nur wenn wir unsere vergessene und verdrängte Geschichte einholen, besteht eine Chance, Realitäten wahrzunehmen.

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Und der einzige, so scheint es heute im Rückblick, der versucht hat zu deuten, was denn dieser gescheiterte Versuch einer aufhebenden Beendigung der Geschichte und die Durchsetzung des in der Natur so scheinbar erfolgreichen Herrschaftsanspruch des Menschen über die Geschichte für die Geschichte selbst bedeutet, ist Fukuyama, ein Amerikaner japanischer Herkunft, in seinem Buch "Das Ende der Geschichte". Und das Interessante ist, daß von diesem Buch heute eigentlich keiner spricht. Auch der Autor hat inzwischen Abschied genommen von diesem schönen Gedanken, den er in diesem Buch formuliert hat, den auch heute noch viele für weitgehend richtig und zutreffend halten, nämlich der Überlegung, daß es zu einem demokratisch-freiheitlichen, marktwirtschaftlich organisierten, rechtsstaatlichen, die Menschenrechte respektierenden Staat nach dem Ende des Kommunismus keine Alternative gibt. Die These vom Ende der Geschichte von Fukuyama impliziert, daß aus diesem Weltkonflikt der Liberalismus als strahlender triumphaler Sieger hervorgegangen ist und es zu ihm keine Alternative gibt. Es gibt vielleicht Stillstand und momentane Rückschläge, aber schließlich und endlich wird sich die ganze Welt, alle Kulturen und Nationen an diesem Modell orientieren und wenn es sich erst weltweite Anerkennung und Durchsetzung verschafft hat, wird die Alternativlosigkeit realisiert sein und das Ende der Geschichte ist da.

Zum zweiten Mal trifft also in der aufnehmenden Interpretation für den Kommunismus ebenso wie für den Liberalismus eine Geschichtsdeutung zu, zu der die These vom Ende der Geschichte nach der Verwirklichung eines utopischen Entwurfes gehört.

Die Gegenwart ist aber durch die Thesen eines anderen Autors bestimmt, durch Huntington. Und ich zitiere nur den Titel dieses Buches "The clash of civilisations". Also nicht Ende der Geschichte, sondern "clash", das heißt Krieg, Zusammenbruch, Auseinandersetzung. Allein durch den Titel des Buches "The clash of civilisations" wird dieser schöne und edle, aber doch offenbar realitätsfremde Glaube, es könnte durch den Verfall des Kommunismus oder den Sieg des Liberalismus die Geschichte zu Ende sein, eindeutig widerlegt.

Und das Weltpanorama, das Hun-tington zeichnet, unterscheidet sich fundamental von Fukuyama. Was Hun-tington sieht, ist, daß die Weit sich nach einem anderen Prinzip plural organisieren wird und zwar nicht nach dem, das den politischen Kampf in der Zeit des Kalten Krieges, der Auseinandersetzung der Ideologien oder der unterschiedlichen Politiken beherrschte. Das gehört alles zur ehrwürdigen Tradition der Aufklärung. Bis zum Ende des Kalten Krieges haben wir, und tun es noch, in den Kategorien gedacht, die uns durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert vorgezeichnet waren. Sie beinhalten den ökonomisch-politischen, den emanzipatorisch-kulturellen Triumph und den endgültigen Schritt zur Selbstbefreiung des Menschen.

Die Größe, die bei dem anerkannten Politologen Huntington auftaucht, ist nicht mehr Ideologie, ist nicht mehr primär Politik, sondern die neue Größe die auftaucht, ist Kultur. Das heißt, die Welt wird sich nach dein Prinzip unterschiedlicher Kulturen organisieren, und diese unterschiedlichen Kulturen, mit Ausnahme von Teilen des Westens, haben als innere Initiativ- und Mobilisierungskraft und sie tragende Größe die Religion.

Kultur ohne Religion, das Experiment machen wir gerade, aber wenn wir die Resultate im deutschen Fernsehen beobachten, dann wird wohl keiner zu einer optimistischen Bilanz kommen können. Das 21. Jahrhundert steht im Zeichen der Erfüllung eines Satzes des Konservativen Arnold Gehlen, der gesagt hat, mit der Religion wird es ernst, wenn sie wieder die Kraft findet, Fronten zu schaffen. Die frontenbildende Kraft macht es aus, daß die Religion wiederkehrt. An dieser Stelle muß ich mich selbst zitieren, weil ich schon vor 20 Jahren gesagt habe, das große Thema am Anfang des 21. Jahrhunderts wird nicht mehr die Politökonomie, sondern die Religion sein. Und die Religion mit der ganzen Last der Geschichte kehrt heute weltweit wieder.

Der Traum, nach erfolgreicher Beendigung des Ost-West-Konfliktes könnte eine qualitativ neue Geschichte beginnen, ist ausgeträumt. Mit der Rückkehr der Geschichte kehrt auch die uns bekannte Geschichte wieder. Um mich kurz zu fassen, will ich nur zwei Punkte herausgreifen. Wenn wir die Frage stellen, welches die Ursachen und die Gründe sind, die zu dem weltweiten Netzwerk des Selbstmörderterrorismus geführt haben, dann treten Leute auf, die behaupten, das hänge mit der materiellen Verelendung, mit der zivilisatorischen Zurückgebliebenheit und mit der militärischen und sonstigen Überlegenheit westlicher Mächte zusammen. Sie deuten also dieses Phänomen mit den Kategorien von gestern. Und sie sind nicht bereit, wenigstens bei uns zuzugeben, daß dieses Phänomen ohne eine Renaissance, ohne eine innere erneuernde Wiedergeburt des Islam überhaupt nicht vorstellbar ist. Dieses sich aus religiösen Impulsen bildende Phänomen artikuliert sich politisch und ideologisch auf zwei verschiedenen Ebenen, die innerste religiöse Antriebskraft und die politisch-ideologische Artikulation. Gleichzeitig stellen wir fest, daß sich heute weltweit auch die Wiederkehr einer ideologisch-politischen Situation abzeichnet, die für die Weimarer Republik und ihren Niedergang bezeichnend war.

Alle Kernsätze des Hitlerismus, des Nationalsozialismus, kehren heute durch diese revolutionäre Avantgarde wieder, die nur ein Teil der islamischen Welt ist, aber offenbar zahlreich und groß genug, um das politische Antlitz der Welt zu verändern. Der Kampf geht gegen Imperialismus, den Anspruch der Welthegemonie der westlichen Zivilisation, gegen die Geringschätzung und Unterdrückung sogenannter organischer Kulturen und deren nivellierende Einebnung und Integration in ein von westlichen Vorstellungen gebildetes Weltmodell nach den Prinzipien des Neoliberalismus. Antisemitismus, Rassismus, Dollarimperialismus und der Kampf gegen die westliche Kultur als Ganzes sind die entscheidenden Slogans. Es kehrt das wieder, was wir Deutsche in der Weimarer Republik erlebt haben.

Und die große Frage ist natürlich, nimmt die westliche Welt diese Herausforderung an. Eine unterschiedliche Interpretation dieser neuen Weltkon-stellation ist die Ursache der zunehmenden Entfremdung zwischen Europa und Amerika, vor allen Dingen Deutschland und Amerika.

Wir müssen erkennen, daß der tiefere Grund für diese Entfremdung, bis fast zur Auflösung des traditionellen Freundschafts- und Bündnisverhält-nisses, ein religiöser ist. Die Einstellung zur Herkunftsreligion in Europa und Deutschland unterscheidet sich fundamental von Amerika und zwingt uns zu einer Korrektur unseres Amerikabildes. Wir haben in unsere Verfassung in Europa weder den Gottesbezug aufgenommen noch die verpflichtende Erinnerung an die christliche Herkunft und das christliche Erbe. Diese Verfassung beruft sich nur auf die neuzeitlichen Prozesse der Aufklärung als einzige geistige Kraft und Ursprungsgröße, aus der heraus das neue Europa versuchen wird, seine Identität zu bilden.

Das ist absurd, denn die zweite, Europa auch geistig und kulturell vereinigende Größe ist das Christentum. Wenn man nach der Einheit und einer geistig-kulturellen Wurzel für Europa fragt, dann kommt man nicht daran vorbei, daß diese entscheidende Wurzel das christliche Erbe ist, und daß es die Aufklärung im 18. Jahrhundert in all ihren Formen ohne dieses christliche Erbe nicht gegeben hätte. Wer das christliche Erbe streicht, wird auch die Aufklärung zerstören. Denn die totalitären Experimente des 20. Jahrhunderts sind der Umschlag von aufklärerischen Ideen, Konzeptionen und Denken unter Abkoppelung der christlich-abendländischen Tradition und Herkunft. (...)

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Die Konsequenz der Wiederkehr der Geschichte ist die Rückgewinnung der Fähigkeit zum geschichtlichen und damit zum politischen Denken. Geschichtlich zu denken heißt kata-strophenempfindlich zu denken.

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Aber was bedeutet das, was wir die Wiederkehr der Geschichte nennen, nach dem Ende der Utopien? Was bedeutet das für die Bundesrepublik Deutschland? (...)

Wenn wir realistisch fragen, woran die Demokratie in Weimar zugrunde gegangen ist, dann ist sie natürlich an der tödlichen Umklammerung von Kommunisten und Nationalsozialisten zugrunde gegangen. Aber daß es zu dieser tödlichen Umklammerung gekommen ist, ist entscheidend. Die Gründe waren, daß die Leute immer mehr den Eindruck gewannen, die Demokratie in der damaligen Verfassung sei nicht in der Lage, mit den entscheidenden Lebenspro-blemen und Herausforderungen für das deutsche Volk fertigzuwerden. Es war Enttäuschung, zum Teil Verzweiflung an der Demokratie. Es war nicht die Bestätigung eines Charakters der Deutschen als Nichtdemokraten. Dieses politisch harmlose und arglose, so leicht führbare, ja selbst nach Führung rufende Volk soll antidemokratisch sein, das ist der größte Unsinn, den man verbreiten kann. Wer die extremen geschichtlichen und schicksalhaften Verzweiflungssituatio-nen nicht mitberücksichtigt, wird dem Verhalten dieses Volkes nicht gerecht.

Die Frage, vor der wir stehen, ist, ob wir angesichts der Wiederkehr der Geschichte mindestens das gelernt haben, was man aus der Geschichte lernen kann und sollte. Damit wir aber aus der Geschichte lernen können, muß eine fundamentale Revolution der Denkungsart vorausgehen, so wie Kant es genannt hat. Wir müssen also aufhören, immer nur in sozialwissenschaftlichen, gesellschaftlichen und sozioökonomischen Kategorien zu denken und zu planen. Alle Parteien tun nur noch das, anstatt geschichtlich zu denken. Die große Grenze unserer Führungseliten ist, daß sie in technischen, wissenschaftlichen, ökonomi-stischen und sozialwissenschaftlichen Kategorien versuchen, das sich Ereignende und Geschehende zu fassen, um Lösungen herbeizuführen. Sie vergessen, geschichtlich zu denken, weil wir uns selbst unsere Geschichte genommen haben.

Eine der tödlichsten und gefährlichsten Konsequenzen der moralisch so notwendigen Vergangenheitsbewältigung war die fatale Tendenz, die deutsche Geschichte auf 40 oder 50 Jahre zu reduzieren und auszublenden, daß die deutsche Geschichte Teil der europäischen Geschichte ist, und daß es kein Europa ohne Deutschland geben kann, so wie auch in Zukunft kein Deutschland ohne Europa. Das hat schon immer zum Selbstverständnis der Deutschen und ihrer Geschichte gehört. Nur wenn wir unsere eigene vergessene, verlorene und verdrängte Geschichte selbst wieder einholen und zwar in ihrer Bedeutung, die sie für die Gegenwart und für die Lösung gegenwärtiger Probleme hat, besteht überhaupt eine Chance, Realitäten wieder wahrzunehmen. (...)

Nur die historisierende musealisie-rende Betrachtung der Geschichte hilft uns nicht, sie bleibt bedeutungslos für die Bildung der Substanz, aus der wir unsere Politik konzipieren und unsere Entscheidungen fällen. Geschichte ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart, und Geschichte kann ihre Gegenwärtigkeit nur behalten, wenn ein Volk in der Lage ist, Traditionen auszubilden. Wenn wir Emanzipation als die Befreiung von allen Autoritäten und Traditionen verstehen, dann stehen alle emanzipierten Individuen eines Tages nackt und bloß da und finden auf die fundamentale Frage, wie sie leben sollen, nur noch beliebig austauschbare und damit manipulierbare Antworten. Die Konsequenz der Wiederkehr der Geschichte ist die Wiederkehr und Rückgewinnung der Fähigkeit zum geschichtlichen und damit zum politischen Denken. Geschichtlich zu denken heißt katastrophenempfindlich zu denken und Sinn für haltende Traditionen und Autoritäten zu haben, das ist das Wesen konservativen Denkens.

Wegen der Besinnungslosigkeit, mit der wir nach dem Zusammenbruch des Sozialismus zur Tagesordnung überge-gangen sind, kriegen wir nicht mit, daß die großen Weltmächte der Gegenwart sich zutiefst konservativ organisierende, denkende und verhaltende Mächte sind. Das trifft für China zu, das sich nicht aus Maoismus, sondern aus seinen ältesten konfuzianischen Traditionen und Kulturideen erneuert. Das trifft auch für den Rest Europas zu, für Frankreich, im Prinzip auch für Großbritannien und für Rußland, das zu seiner alten Tradition des autoritären Polizeistaates zurückkehrt, weil noch keiner gezeigt hat, wie Rußland anders zu regieren ist.

Und natürlich und das ist das erstaunlichste Phänomen, Amerika. Die führende Weltmacht, die einzige Macht, der man eine Verteidigung der westlichen Zivilisation zutrauen kann, wird tiefgreifend durch eine konservative, nationale, zum großen Teil christlich bestimmte Kulturrevolution verändert. Kein Präsident, kein Politiker in Amerika hat eine Chance, wenn er diesem konservativ-national-religiösen Erneuerungswillen Amerikas im Wege steht.

 

Prof. Dr. Günter Rohrmoser, Jahrgang 1927, lehrte Sozialphilosophie an der Universität Stuttgart-Hohenheim und politische Philosophie an der Universität Stuttgart. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt "Kulturrevolution oder Niedergang?!" (Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim/Baden 2005), aus dem wir hier mit freundlicher Genehmigung einen Auszug veröffentlichen.

 

Bild: Caspar David Friedrich, "Das Eismeer" (Öl auf Leinwand, 1823/24): Geschichte ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart, Geschichte denken, auch provinziell denken, heißt unsere Heimat mit ihren unentdeckten Reichtümern zu lieben.


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