© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/05 25. Februar 2005

Schattenboxen der Zwerge
Boris Schilmar rekonstruiert die politisch einflußlose Europadebatte unter deutschen Emigranten zwischen 1933 und 1945
Manfred Büttner

Europa ist in Mode. Die bevorstehenden Volksabstimmungen über den Entwurf zur Europäischen Verfassung bedingen einen erhöhten Ausstoß an rechts- und politikwissenschaftlicher Publizistik. Nicht selten lassen sich dabei eifrige Visionäre vernehmen, die Europas postnationale Zukunft in leuchtenden Farben malen.

Passend zu diesem Utopismus sind vornehmlich junge Historiker, rückwärtsgewandte Propheten von Profession, in den letzten Jahren bestrebt, den "Vorschein" europäischen Bewußtseins als tief im 20. Jahrhundert verborgen nachzuweisen. Die EU-Kommission hat diese historiographischen Anstrengungen frühzeitig kräftig gefördert in der Absicht, ein europäisches Geschichtsbewußtsein möglichst frühzeitig, im Schulunterricht, zu wecken (siehe JF 02/05). So gibt es immerhin eine Tradition, die auf mehr als 25 Jahre Forschung zum Thema "Idee Europa" zurückblicken kann.

Trotzdem bleiben noch erstaunliche ideenhistorische Lücken. Eine solche hat Boris Schilmar entdeckt und zum Gegenstand seiner an der Universität Münster entstandenen Dissertation über den "Europadiskurs im deutschen Exil 1933 - 1945" gemacht. Ihr Schwerpunkt liegt auf der kommunistischen und sozialdemokratischen Europakonzeption. Die war in den ersten Jahren der Emigration noch stark beeinflußt von den Gedankenspielen zur Zeit der Weimarer Republik. Im pazifistischen Illusionismus solcher Völkerbundenthusiasten wie Kurt Hiller, Otto Lehmann-Russbueldt und Friedrich W. Foerster, die Schilmar hier neben die Sozialisten und die von ihm etwas stiefmütterlich berücksichtigten "Liberalen und Bürgerlich-Konservativen" (Heinrich Mann, Leopold Schwarzschild, Linkskatholiken wie Hubertus Prinz zu Löwenstein) sowie die allein von (dem ausführlicher gewürdigten) Otto Strasser repräsentierten "Nationalkonservativen" stellt, tritt diese Kontinuität, eine Aktualisierung Weimarer Debatten, klar zutage. Daß Schilmar sich in diesem Kontext einer geschichtspolitischen "korrekten" Deutung des Versailler Diktats (Jost Dülffer: "kollektive Selbstsuggestion") anschließt, das angeblich ein "positiver Ausgangspunkt" mit "vielversprechenden Ansätzen" für den europäischen Neuanfang gewesen sei, ruft Widerspruch hervor, kann aber bei einem Historiker des Jahrgangs 1971 nicht verwundern. Ebensowenig wie seine krasse Fehleinschätzung, daß "nur äußerst wenige Nationalkonservative den Weg ins Exil suchten, da sie sich entweder der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hatten oder zumindest eine Kooperation mit dem Hitler-Regime anstrebten".

Erst "nach München", also ab 1938, glaubt Schilmar von einer Präzisierung und Konkretisierung der Europadiskussion sprechen zu dürfen, die sich deutlich von den vagen Neuordnungsplänen im Schatten von Genf und Locarno gelöst habe. Sehr ausführlich werden nun die politisch divergierenden Europaideen referiert, die zwar wirklich "detaillierter" sind, sich aber tatsächlich nicht von Weimarer Denkschablonen unterschieden. Wenn Schilmar feststellt, nur wenige Emigranten hätten sich 1938/39 für die "politische Eigenständigkeit" des Kontinents, vage auch für eine Brückenfunktion zwischen den Anglo-Amerikanern und der Sowjetunion, durchgerungen, so waren die Vorstellungen in diesem Punkt vor 1933 sogar entschiedener. Allein der föderalistische Gedanke und die damit zwangsläufig verbundene Relativierung und schließlich Negierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker dürfte mit stärkerer Konsequenz diskutiert worden sein als zu Weimarer Zeit - nicht nur im sozialistischen Lager. Daneben wirkt der am Staatenbund festhaltende Konföderalismus des "Paneuropäers" Richard Coudenhove-Kalergi schon so randständig wie Otto Strassers auf nationale Souveränität fixierte Konstruktion der "Vereinigten Staaten Europas".

Die fast exzessive, von Schilmar bis in unwichtige Facetten hinein rekonstruierte Europa-Diskussion während der Zeit des Zweiten Weltkrieges bietet dem Leser die Dokumentation eines Schattenboxens von Zwergen. Denn weder in London und Washington noch in Moskau gewannen Emigranten einen nennenswerten Einfluß auf die alliierten Nachkriegskonzeptionen. Dabei ergibt sich eine merkwürdige Parallele mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Denn sowenig sich Churchill oder Roosevelt für die Schreibtischvisionen sozialdemokratischer Publizisten wie Friedrich Stampfer interessierten, so bedeutungslos blieben die Versuche der Goerdeler, Hassell & Co., ihre Europa-Denkschriften im Ausland zu lancieren. In der Beurteilung der durch die "Großen Drei" in der Konferenz von Teheran öffentlich zementierten politischen Ohnmacht des Kontinents stimmten "innere" wie "äußere" Emigration denn auch überein.

Mit der von Stalin und Roosevelt beschlossenen Teilung Europas waren alle Reißbrettplanungen des Exils Makulatur. Leider fällt der Vergleich zwischen den Europa-Ideen des inner- und außerdeutschen Widerstands etwas farblos aus, zumal Schilmar die "Kreisauer" und die "Honoratoriengruppe" um Goerdeler nur skizziert, sich dabei auch eher peinliche Fehler leistend, etwa wenn er Goerdeler Ausscheiden aus dem Amt des Leipziger Oberbürgermeisters (1936) auf 1940 datiert oder den Nationalökonomen Jens Jessen zum "Staatsrechtler" ernennt. Schon vorher waren derlei Unsicherheiten immer dann aufgefallen, wenn der Autor seine ureigene Forschungsdomäne "Exil" verließ, so etwa wenn er von Alfred Rosenberg als dem "Leiter des Auswärtigen Amtes der NSDAP" spricht, obwohl der "Reichsleiter" nur dem einflußlosen "Außenpolitischen Amt" der Partei vorstand.

Neben solchen Details erscheint gravierender, daß Schilmar die Differenziertheit der Europadebatten, auch der inner-nationalsozialistischen Kontroversen, außerhalb des Exils nicht angemessen erfaßt. Hier wäre ein Blick in die von Michel Grunewald und Hans Manfred Bock in den letzten Jahren im Rahmen eines deutsch-französischen Projekts herausgegebenen Bände über den intellektuellen "Europadiskurs" sicher genauso hilfreich gewesen wie ein Abgleich mit der inzwischen ganz ansehnlichen Literatur zur Kontinuität des deutschen "Mitteleuropa"-Denkens oder konkurrierenden Modellen in Sachen "europäischer Großraum". Daß unter den Exilanten dezidierte "Europäer" wie Stefan Zweig oder Thomas Mann nicht erwähnt werden, wäre zumindest erklärungsbedürftig gewesen.

Boris Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933-1945. R. Oldenbourg Verlag, München 2004, 406 Seiten, gebunden, 49,80 Euro


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