© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/05 25. Februar 2005

Sehnsucht nach der großen Destillation
Jüngers Lektüren, zweiter Teil der JF-Serie : Ernst Jünger liest Léon Bloy, den Nietzsche Frankreichs
Alexander Pschera

Die sieben Matrosen der kopernikanischen Wende sind ein Symbol, mit dem Ernst Jünger das Vorwort zu seinem Tagebuch-Sextett "Strahlungen" eröffnet. Ihre Aufzeichnungen, verfaßt im Winter 1633/34 "auf der kleinen Insel des heiligen Mauritius im Nördlichen Eismeer", reflektieren nach Jünger die "Absetzung des Autors von der Welt", wie sie für die Moderne bezeichnend ist. Die Selbst-Entdeckung des modernen Ich führt, so Jünger, zu immer präziseren Beobachtungen, zu einem starken Bewußtsein, zur Einsamkeit und zum Schmerz - keiner der Matrosen überlebte den arktischen Winter. Hiermit sind wichtige Merkmale von Jüngers Tagebüchern genannt. Zugleich markiert Jünger aber auch Eckpunkte des Universums eines der größten Autoren Frankreichs, dessen Werk ihn in den Jahren 1939 bis 1945 wie kaum ein anderes beschäftigte: das Werk Léon Bloys.

Léon-Hénri-Marie Bloy, geboren am 11. Juli 1846 in Périgueux, gestorben am 3. November 1917 in Bourg-la-Reine, nannte sich selbst einen "Pilger des Absoluten". Durch Barbey d'Aurevilly 1869 zum Katholizismus bekehrt, führte er als Journalist, Literaturkritiker und Schriftsteller einen existentiellen Kampf gegen die säkularisierte Moderne, gegen Dummheit, Heuchelei und Relativismus, gegen die Gleichgültigkeit einer materialistischen Ordnung. Die radikale Infragestellung alles dessen, was Individuum, Gesellschaft und Staat ausmacht, trieb ihn an den Rand jener Gesellschaft, der er sich gegenüberstellte.

Für Bloy war Gott nicht tot, sondern er "zieht sich zurück"

Extreme Armut, Isolation, Verachtung, ja Haß waren die Konsequenzen - Konsequenzen, die die Radikalität seines Werks und seiner Sprache nur noch weiter steigerten: Neben vielem anderen ist Bloy auch ein großer Polemiker. Sein vielbändiges Tagebuch der Jahre 1892 bis 1917, seine verzweigte Korrespondenz, seine zahlreichen Essays - darunter "Sueur de Sang" (1893), "Exégèse des lieux communs" (1902), "Le sang du pauvre" (1909), "Jeanne d'Arc et l'Allemagne" (1915) - und nicht zuletzt seine zwei Romane ("Le désespéré", 1887; "La femme pauvre", 1897) bilden zusammen ein Werk, dem die Grenzüberschreitung eingeschrieben ist und das sich mit herkömmlichen Kriterien kaum fassen läßt. Denken und Sprache, Erkenntnis und Intuition, Liebe und Haß, das Hohe und das Niedere bilden im Werk Bloys eine untrennbare Einheit. Bloy rammt einen Pfahl des Absoluten mitten in den mürbe gewordenen Körper der westlichen Zivilisation. Damit ist Bloy neben Nietzsche, dem er auch physiognomisch ähnelt, einer der fundamentalen Erschütterer der Moderne.

Bloys Wirkung freilich ist mit der Nietzsches nicht vergleichbar. Das hat seinen Grund. Während Nietzsche sagt: "Gott ist tot", postuliert Bloy: "Dieu se retire" - "Gott zieht sich zurück". Nietzsche ruft einen neuen Menschen gegen Gott aus, Bloy fordert die Erneuerung des alten Menschen in radikaler Gemeinsamkeit mit Gott. Man steht hier, das sei wenigstens ansatzweise ausgeführt, entschieden am Scheideweg der Moderne. An der Grenze der Zeitalter, im Malstrom, kündigt sich eine Erneuerung an, die von Nietzsche und von Bloy gesehen, aber grundsätzlich anders prophezeit wird. In Nietzsche kulminiert die Selbstbefreiung des Menschen aus den Ordnungen des Abendlands und damit letztlich die Aufklärung, in Bloy kulminiert die Gegenaufklärung, die eschatologische Definition der humanen Existenz. Nietzsche machte auch deshalb Schule, weil sein Denken, wenn auch in negativer Dialektik, immer noch auf die Aufklärung bezogen war. Er stellt, in Abwandlung einer Formulierung Jüngers, die Vorderseite der Medaille dar, die das Bewußtsein prägt.

Bloy war immer auf die Rückseite dieser Medaille verbannt. Er blieb bis heute ein Esoteriker. Seine Texte sind, so Jünger, "hieroglyphisch". Es sind "Werke, für die wir erst heute als Leser reif geworden sind. Sie gleichen Transparenten, deren Inschrift der Schein der Feuerwelt enthüllt." Doch gerade aufgrund dieser Entgegensetzung bilden Nietzsche und Bloy wie Skylla und Charibdis das Tor, das ins 20. Jahrhundert führt. Man kann sich nicht für einen von ihnen entscheiden, sondern muß, so zeigt es die Geschichte, zwischen ihnen hindurch. Bloy und Nietzsche sind die wahren Dioskuren des Malstroms. Als solche wurden sie nur von wenigen gesehen. Zu diesen wenigen zählen der Katholik Carl Schmitt und der Protestant Ernst Jünger.

Allein mit dieser Polarität ist gesagt, daß Bloys Bedeutung weit über die eines "katholischen Erneuerers" hinausgeht, auf die er nur allzu oft reduziert wird. Jünger nennt Bloy im Vorwort der "Strahlungen" und auch in den Tagebüchern regelmäßig im gleichen Atemzug mit der Bibel. Er las beide parallel - das zeigen zum Beispiel die Einträge vom 2. und 4. Oktober 1942 sowie vom 20. April 1943. Von Bloy aus erschließt sich Jünger ganz offenbar das Buch der Bücher, das "Handbuch alles Wissens, das (...) Unzählige durch die Schreckenswelt begleitete", wie es im Vorwort der "Strahlungen" heißt. Bloy gab Jünger "methodologische Anregungen" für die geforderte neue Theologie, für die "Exegese im Sinne des 20. Jahrhunderts". Doch Jünger stellt Bloy zugleich auch in den Kontext der "Auguren der Malstromtiefen", zu denen er außerdem Poe, Melville, Hölderlin, Tocqueville, Dostojewski, Burckhardt, Nietzsche, Rimbaud, Conrad und Kierkegaard zählt. Es sind dies Autoren, die Jünger auch Seismographen nennt, Autoren, die die "andere Seite" kennen, die den Titanismus und kommende Katastrophen vorausfühlen oder gar geistig erfassen, die, wie Jünger selbst in der "Zeitmauer", ihre Vision von Zeit, Geschichte und Schicksal benennen können. Nur zu oft, so Jünger, "zerbrechen" diese Auguren an dem Wagnis, das sie eingehen, in erster Linie Nietzsche, "den zu steinigen heute zum guten Ton gehört", in zweiter Linie Hamann, der sich oft "selbst nicht mehr verstand". Und man kann mutmaßen, ob Jünger sich nicht auch selbst in dieser Tradition gesehen hat: "Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein" - das kann als Erklärungsmuster auch für die Rezeption Jüngers herhalten.

Der Weg zu Bloy war allerdings für Jünger nicht einfach. So bekennt er: "Ich hatte (...) Widerwillen zu überwinden - man muß indessen heute die Wahrheit nehmen, wo man sie trifft. Sie fällt, dem Lichte gleich, nicht immer auf den angenehmen Ort". Was also ist jener "unangenehme Ort", der Jünger Widerwillen einflößt? Jünger schreibt am 30. Oktober 1944 in Kirchhorst: "Weiter im Léon Bloy, dessen Wirkung darauf beruht, daß er den Menschen repräsentiert, in seiner Infamie, doch auch in seiner Glorie". Was das en detail heißt, zeigt in aller Drastik der Eintrag vom 7. Juli 1939: "Bloy ist ein Zwillingskristall aus Diamant und Kot. Sein häufigstes Wort: 'ordure'. Sein Held Marchenoir sagt von sich aus, daß er in das Paradies mit einer aus Menschenkot geflochtenen Krone eintreten wird. Frau Chapuis ist nur noch als Wischlappen für die Totenmulden eines Leprosenhospitals gut. In einem Pariser Garten, den er beschreibt, herrscht ein solcher Gestank, daß sich eines säbelbeinigen Derwisches, der Abdecker von verpesteten Kamelen geworden ist, Verfolgungswahn bemächtigen würde. Frau Poulot hat unter ihrem schwarzen Hemd eine Büste, die einem im Schmutz gewälzten Stück Kalbfleisch gleicht, das eine Hundemeute, nachdem sie es flüchtig überpißte, im Stiche ließ. Und so endlos fort. Dazwischen finden sich dann auch so vollkommene (...) Sentenzen wie: 'La Fete de l'homme, c'est de voir mourir ce qui ne parait pas mortel'."

Bloy steigt tief hinab in den Malstrom, mit weit geöffneten Augen zudem. Das erinnert an Jüngers hellwachen Gang durch das "Foyer des Todes" in den "Gärten und Straßen". Doch entscheidend ist, daß Bloy auch einen Weg aus dem Wirbel weist, daß er auch wieder aus dem Malstrom aufsteigt: "Bloy gleicht einem Baume, der, in den Sümpfen wurzelnd, erhabene Blüten in der Krone trägt", schreibt Jünger am 28. Oktober 1944. Dieses Bild vom Aufstieg aus den Niederungen der Materie in die Sublimation des Geistes findet sich auch in dem Eintrag vom 23. Mai 1945 anläßlich einer Lektüre von Bloys Le Salut par les Juifs: "Diese Lektüre gleicht (...) dem Aufstieg durch eine Gebirgsschlucht, bei der Rock und Haut durch Dornen zerfetzt werden. Sie wird auf dem Grat durch einige Sätze belohnt, durch einige Blüten, die einer Flora angehören, die sonst ausgestorben, doch für das höhere Leben unschätzbar ist."

"Man muß die Wahrheit nehmen, wo man sie findet"

In Bloys Denken findet Jünger nicht nur eine vehement vorgetragene Zerstörung diesseitiger Verhältnisse, sondern auch die Voraussetzung zum Neuanfang, zu einer "Kehre", zu einer Epoche des Geistes jenseits der Zeitmauer, in der die titanischen Kräfte gebunden und Mensch und Erde wieder versöhnt werden. Ob Bloys heilsgeschichtliches Denken von Jünger "metaphorisch" verstanden wurde, wie Martin Meyer in seinem Jünger-Buch andeutet, oder ob Jünger in Bloy gerade die Auflösung des Nihilismus Nietzsches sah - in diese Richtung deuten im obigen Zitat das "Haut-Dornen"-Bild der christlichen Tradition -, kann hier nicht erörtert werden.

Fest steht: Bloy war neben Nietzsche die Leitfigur für Jüngers geschichtsphilosophisches Denken. "Die Zinnen seines Turmes ragen in sublime Luft. Damit muß auch die Todessehnsucht zusammenhängen, der er oft mächtig Ausdruck gibt: Sehnsucht nach Darstellung des Steins der Weisen aus niederen Schäumen und dunklen Hefen: nach großer Destillation."

 

Zeit seines Lebens war der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) ein großer Leser. Mehr noch: Lektüre stellte einen Teil seiner Existenz dar. Spuren dieses Lesens durchziehen sein Werk - von den "Stahlgewittern" bis zu "Siebzig verweht V". Um Jünger zu verstehen, muß man diesen Spuren folgen, leiten sie doch zu Bedeutungsräumen, die hinter dem Text verborgen liegen. Jünger lesen heißt also "Spuren-Lesen". Diese JF-Serie versucht, einige Fährten aufzunehmen und ansatzweise zu entziffern. Und sie will natürlich auch zur Lektüre von Jüngers Lektüren anregen.

Foto: Léon Bloy: Zwillingskristall aus Diamant und Kot

 

Dr. Alexander Pschera ist Germanist und arbeitet derzeit an mehreren Ernst-Jünger-Projekten. In der ersten Folge dieser Serie ging es um Hermann Löns (JF 05/05).


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