© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/05 18. Februar 2005

Aussterbende Erinnerung
Ostpreußen und die Privatisierung seiner Geschichte: Vom Verschwinden einer Provinz in der bundesdeutschen Gedenkkultur
Rainer Lass

Es ist nicht originell, festzustellen, daß der Untergang Ostpreußens, das Ende deutscher Staatlichkeit zwischen Memel und Weichsel, in den letzten Jahrzehnten zeithistorisch weitgehend ignoriert wurde. Diesen Untergang überließen die etablierten bundesdeutschen Historiker allzu gern den "Laien". Um Andreas Hillgruber zu variieren: zweierlei Untergang, zuerst durch Vertreibung und Annexion, dann durch historiographische Eliminierung.

Außerhalb der Institutionen, nicht angebunden an Lehrstühle, nicht durch Forschungsaufträge gefördert, tat jeder dieser Laien als Chronist, Stimmensammler und Alltagsarchäologe sein Bestes. Manche wie der Arzt Hans Graf Lehndorff oder die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff wurden durch große Bucherfolge belohnt. Auffällig viele Frauen schrieben sich die Erlebnisse von der Seele. Erinnert sei an die Lehrerin Lucy Falk ("Ich blieb in Königsberg"), an Anneliese Kreuz ("Das große Sterben in Königsberg") und Elfriede Kalusche ("Unter dem Sowjetstern") und ihre Berichte aus der Zeit der Belagerung und Besetzung Königsbergs.

Zu denken ist auch an Pfarrer Hugo Linck, der schon 1948, kaum dem sowjetischen Pandämonium entkommen, seine Erfahrungen zu Papier brachte, an den Hygieniker Hans Schubert, der unter dem Pseudonym Hans Deichelmann schrieb ("Ich sah Königsberg sterben"). Nicht vergessen werden sollte auch Michael Wieck, der sehr lange brauchte, bevor er als "Geltungsjude" sein sehr bitteres "Zeugnis vom Untergang Königsbergs" (1988) veröffentlichte, sowie der von landsmannschaftlicher Seite eher gemiedene Martin Bergau, der an den Judenmord am "Bernsteinstrand" von Palmnicken im anhebenden Chaos des Winters 1945 erinnerte. Aus der Sicht der Eroberer bewahrten Lew Kopelew, auch er kein Historiker, sondern Germanist, und Alexander Solschenizyn, Offizier und Schriftsteller, sicher nicht für "alle", aber immerhin für geraume Zeit Eindrücke auf vom Marsch in die "Höhle des faschistischen Tiers".

Zur Geschichte der Eroberung Ostpreußens, zur Information über das unmittelbare Kriegs- und Fluchtgeschehen, wie über die oft eigentümliche Gemütsruhe der Betroffenen - man denke an viele mündlich überlieferte Schilderungen der "letzten Weihnachten in der Heimat" - muß man bis heute auf das fast fünfzig Jahre alte Werk zweier militärischer Zeitzeugen zurückgreifen, auf Kurt Dieckert und Horst Grossmann: "Der Kampf um Ostpreußen". Die Provinz hat es aber mit diesem Werk auf dem Sektor des rein Faktischen nicht einmal wie Pommern mit Erich Murawskis "Die Eroberung Pommerns durch die Rote Armee" (1969) zu einer minutiösen Bestandsaufnahme der Ereignisgeschichte gebracht, da Dieckert/Grossmann nur ein reichlich großmaschiges Netz aufspannen.

Das ist also nicht viel, vor allem nicht viel, was in die Breite gewirkt hat. Eher im engsten nachbarlichen Umfeld verharrten die Orts- und Kreischroniken, viel Unveröffentlichtes lagert noch in den Archiven der nach 1945 ins Leben gerufenen ostdeutschen "Heimatkreise", einiges Material bietet die Ostdokumentation des Bundesarchivs. Vom Ende einer Kulturlandschaft, die auf 750 Jahre deutsche Besiedlung, Geschichte und Kultur verweisen kann, bleiben also nur Spurenelemente.

Abgesehen vom ersten Jahrzehnt BRD, als Vertriebene noch als Wähler umworben waren, als selbst die SPD nicht an den "Verzicht" auf die in allen Schulatlanten als "z. Zt. unter polnischer (russischer) Verwaltung" ausgewiesenen Ostprovinzen des Deutschen Reiches dachte, wirkten Ostdeutsche auch nie in die westdeutsche politische Kultur hinein. Zumal die Aufmerksamkeit nur für kurze Dauer gesichert war.

Eine Klassengesellschaft der Opfer hat sich etabliert

Das Klima änderte sich schon etwa Mitte der sechziger Jahre unter den Vorzeichen der neuen "Ostpolitik" und den dann nur noch kurzzeitig heftig umstrittenen Ostverträgen der Regierung Brandt/Scheel. Spätestens seit dieser Zeit ist es nicht mehr opportun, über den Verlust von einem Viertel des Reichsgebietes zu klagen. Seitdem muß man vielleicht nicht von "Tabuisierung" sprechen, so daß Günter Grass mit seinem "Krebsgang" gewiß keinen "Tabubruch" beging, aber doch in ein politisch inspiriertes "Beschweigen" hineinstieß.

Erinnerungshistorisch begann jedenfalls die Zeit der Privatisierung, da die Geschichte der ostelbischen Provinzen immer mehr auf individuelle "Speicherung", familiäre Erzählung oder landsmannschaftliches "Weißt du noch" beschränkt wurden. Öffentlich wurde diese Abdrängung ins Private durch die Etikettierung der mitteldeutschen DDR als "Ostdeutschland" ab 1990 besiegelt. Die starrsinnige Weigerung der von publizistischer Seite in dieser Haltung fast einhellig unterstützten Bundesregierung (und weiter mit ihr darin einiger Oppositionskreise), ein Vertreibungsdenkmal in Berlin errichten zu lassen, schließt hier geschichtspolitisch nahtlos an.

Ein Blick auf die biologische Uhr der Vertriebenen zeigt den altmodisch-marxistisch einst sogenannten "Herrschenden", daß sie ihre rituelle "Trauer", "Scham" usw. ganz den Opfern der Premiumklasse reservieren dürfen, während Deutsche, und zumal jene, die, wie es im halbrassistischen Jargon wohlkalkulierter Amnesie heißt, irgendwo aus "Ostmitteleuropa" oder am besten gleich aus "Polen" über Oder und Neiße geflohen seien, doch ohnehin nie Opfer, sondern stets nur Täter sein können.

Soweit in diesen Wochen an den Untergang Ost- und Westpreußens, Pommerns und Schlesiens, der sich vor 60 Jahren vollzog, außerhalb von Vertriebenenkreisen gedacht wird, geschieht das ausschließlich unter dem Motto: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Das ist die modische Fassung von Ignatz Bubis' nicht ungeschickter Verdrehung, wonach die erste Vertreibung 1933 begonnen habe, alle weiteren seien nur deren Folge gewesen. In solcher Art der "Aufbereitung" geht nun die mediale Wurstigkeit, entstanden aus dem Halbwissen der nach deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen erzogenen Redakteure und ihrem willfährig-verkniffenem Opportunismus, in die freche Offenheit der Geschichtslüge über. Denn daß Bestialitäten der Sowjets wie jene, die schon bei ihrem ersten stärkeren Einfall in Ostpreußen, im Oktober 1944, Schrecken verbreiteten, unterblieben wären, wenn Wehrmacht oder Einsatzgruppen nie einen Fuß in Stalins Reich gesetzt hätten, ist demselben Bemühen um Volksverdummung zu danken, das Dresden als Folge von Coventry verkaufen möchte.

Nein, Ostpreußen ist ganz unabhängig vom Tun oder Lassen der Wehrmacht das erste der ostdeutschen "killing fields" der Roten Armee geworden. Schon die "Lehrzeit" von Trotzkis Revolutionsheer während des russischen Bürgerkrieges ist untrennbar mit der Praxis des Massenmordes verknüpft. Die Atrozitäten, die sofort am 22. Juni 1941 gegenüber deutschen Soldaten einsetzten, bevor noch der erste Politruk dem "Kommissarbefehl" zum Opfer fiel, standen ganz in dieser "Tradition", die sich selbst außerhalb des Völkerrechts plazierte. "Nemmersdorf" ist unter diesem Aspekt lediglich ein "Detail", ebenso konsequent ins Werk gesetzt wie weitere Verbrechen an der Zivilbevölkerung während "Ostpreußischer Nächte" und Tage nach der endgültigen Überflutung der Provinz ab Januar 1945.

Das Haltbarkeitsdatum ist demnächst abgelaufen

Da die offiziöse Geschichtspolitik das Publikum schon lange auf "Befreiung" einstimmt und darauf, daß sich die Deutschen die Kriegsverbrechen der Feindkoalition "selbst angetan" (Joschka Fischer) hätten, ist die Erinnerung gerade daran sogar noch irrelevanter als an jedes andere sorgfältige "privatisierte" und dem öffentlichen Diskurs entzogene Erlebnis. Schließlich ist die "Privatsache" Ostpreußen in absehbarer Zeit, nach dem Tod der letzten, die den Untergang des Landes, das nie bloß eine Provinz Preußens sein wollte, 1944/45 als Kinder bewußt erlebten, nur noch eine Chiffre, die günstigstenfalls einige Historiker entschlüsseln werden.

Indes dürfte solche Marginalisierung auch die derzeit hegemoniale Gedenkkultur ereilen. Christoph Cornelißen wies unlängst darauf hin (JF 50/03), daß Geschichtsbilder die kollektive Identität für etwa drei Generationen, also etwa achtzig Jahre lang stabilisieren können. Die kürzlich wieder von Peter Glotz im Gespräch mit dieser Zeitung (JF 05/05) kolportierte Befürchtung, "Auschwitz" könne noch "tausend Jahre" auf den Deutschen lasten, kollidiert demnach in krasser Weise mit Cornelißens empirisch gesicherten Daten. Darum dürfte um 2020, zumal dann der der Überlieferung "deutscher" Geschichte ohnehin nicht förderliche Prozeß der Zuwanderung weit fortgeschritten ist, die so kreierte bunte "Bevölkerung" andere Bezugspunkte rückwärtsgewandter "Daseinsstabilisierung" (Aleida Assmann) als die Zeit der Weltkriege gefunden haben.

Sehr viel wahrscheinlicher ist sogar, daß diese Einwanderungsgesellschaft kaum noch vergangenheitsorientiert kommuniziert, daß ihr Bedarf an historiographisch vermitteltem Sinn dramatisch zurückgeht, sie die Ressource Geschichte zum "sinnhaften Aufbau der sozialen Welt" (Alfred Schütz) oder zur "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" (Peter L. Berger/Thomas Luckmann) nicht mehr benötigt. Ostpreußen, Königsberg, Dresden, die Lager, der 20. Juli, Flucht, Vertreibung: Nach dem Ableben derer, die wie Jorge Luis Borges' alles memorierender Held Ireneo Funes das "unerbittliche Gedächtnis" quälte, sind diese Landschaften, Orte, Namen, Ereignisse nur noch Phoneme.

Foto: Grabmal Immanuel Kants am Königsberger Dom: Ein Philosoph irgendwo "aus Ostmitteleuropa"


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen