© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/05 18. Februar 2005

"Das Ziel der Deportation ist das Nichts"
Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" über den Armenier-Genozid ist immer noch aktuell / Türkei leugnet Verantwortung
Ivan Denes

Politische Zeitgeschichte bestimmt nicht selten die Thematik der Literatur. Stendhals "Rot und Schwarz" oder Tolstois "Krieg und Frieden" haben durch ihre unvergleichbare literarische Qualität dazu beigetragen, daß das erfaßte historische Ereignis seine Bewußtseinspräsenz auch über Jahrhunderte behalten konnte. Viel seltener kommt jedoch der Fall vor, in dem ein literarisches Werk eine neue Aktualität dadurch gewinnt, daß seine Thematik, seine Inspirationsquelle nach geraumer Zeit erneut in den Interessenlichtkreis der Öffentlichkeit rückt. Dies ist der Fall bei dem Monumentalroman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel, dessen Erstausgabe 1933 erschien. Es ist das literarische Monument des Völkermordes, den die Türken während des Ersten Weltkrieges an den Armeniern begingen.

Der Musa Dagh - der Mosesberg - liegt an der Mittelmeerküste im ehemaligen ottomanisch-syrischen Sandschak Alexandrette (türkisch: Iskenderum), das 1939 vom französischen Mandatsgebiet Syrien abgetrennt und der Türkei übergeben wurde - als Preis für die Neutralität Ankaras in einem sich abzeichnenden Krieg. Rings um den Berg gab es vor dem Völkermord sieben armenische Dörfer mit etwa fünftausend Bewohnern.

Die Vertreibung der Armenier aus ihren angestammten Siedlungsgebieten im Osmanischen Reich und der Todesmarsch bis in die mesopotamische Wüste erfolgten unter humanitär unvorstellbaren Umständen, denen Hunderttausende zum Opfer fielen. "Das Ziel der Deportation ist das Nichts", hieß es in einem Telegramm aus Konstantinopel an die Verwaltung der Küstenprovinzen Alexandrette, Aleppo und Antiochien. Die Zahl der Toten wird verschieden angegeben, sie bewegt sich zwischen 600.000 und 1,5 Millionen. Einer der seltenen Brennpunkte des armenischen Widerstandes entstand am Musa Dagh, auf den sich die Einwohner der sieben Dörfer zurückgezogen hatten.

Werfel beschreibt nach dem Modell des klassischen Romans - mit mehreren epischen Ebenen, die sich überschneiden - die verschiedenen Phasen des verzweifelten Kampfes dieser einmaligen menschlichen Gemeinschaft unter der Führung zweier hervorragend gezeichneter Persönlichkeiten, des armenischen Aristokraten Gabriel Bagradian, verheiratet mit einer Französin, und des Geistlichen Ter Haigasun. Drei Anstürme einer weit überlegenen türkischen Streitmacht wehren die Verteidiger des Musa Dagh ab, um im letzten Augenblick von einem alliierten Flottengeschwader gerettet zu werden.

Der Roman bietet nicht nur eine breite Freske der spezifisch armenischen Sitten und Ritualien, sondern auch eine filigran gezeichnete, umfangreiche Galerie von Persönlichkeiten, vom eklektischen Apotheker Krikor bis zum treuen Hauslehrer Samuel Awakian, vom heimlichen Derwisch und Oppositionspolitiker Agha Rifaat Bereker bis zum Deserteur Sarkis Kilikian, von den Machthabern und haßerfüllten Jungtürken und Armenierfeinden Enver Pascha und Talaat Bey bis zum armenischen Patriarchen Sawen und dem evangelischen Pastor Johannes Lepsius.

Mit der Figur des aus Potsdam stammenden Pastors, der, wie von Werfel beschrieben, auf verschiedenen Wegen versucht hatte, die mit dem deutschen Reich verbündete Türkei von der Absicht des Völkermordes abzubringen, wird eine Brücke von Werfels Meisterwerk zur politischen Aktualität geschlagen. Denn auf Initiative des sozialdemokratischen Bildungsministers Steffen Reiche wurde Lepsius nicht nur eine Gedenkstätte in Potsdam eingerichtet, sondern in den brandenburgischen Rahmenlehrplan für die 9. und 10. Klasse wurden auch Völkermord, ethnische Verfolgung und Ausrottung im Themenfeld "Krieg - Technik - Zivilbevölkerung" aufgenommen und am Beispiel des türkischen Völkermordes an den Armenien dargestellt.

Es ist bekannt, daß die Türkei seit Jahrzehnten den Völkermord abstreitet. In der Türkei wird die Behauptung, das Osmanische Reich habe den Völkermord begangen, strafrechtlich verfolgt, während im Ausland - offenbar unter dem Einfluß der Holocaust-Thematik - das Thema immer wieder auftaucht. Die französische Nationalversammlung hat 1998 sogar eine entsprechende Resolution verabschiedet. Und angesichts der Drohung, daß im Zuge der in Aussicht genommenen Volksbefragung die französischen Wähler die Aufnahme der Türkei in die EU verhindern könnten, erklärte kürzlich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan giftig: "Ich wußte nicht, daß in Frankreich 400.000 Armenier ein Referendum zu Fall bringen können".

Auch die USA, Kanada, Rußland und die Schweiz haben den Genozid an den Armeniern in ihren Parlamenten anerkannt. Von den EU-Ländern sind es bislang Belgien (1998), Griechenland (1996), Italien (2000), Schweden (2000) und Zypern (1982). In Deutschland scheint - zumindest auf amtlicher Ebene - eine völlig andere Einschätzung des Völkermordes an den Armeniern zu herrschen.

Hierzulande kann die Türkei offenbar schon fast mitregieren. Denn nach einem entsprechenden Brief und einem gemeinsamen Essen des türkischen Generalkonsuls Aydin Durusay mit Brandenburgs Ministerpräsidenten Matthias Platzeck (SPD) und dem parteilosen Bildungsminister Holger Rupprecht wurde das Landesinstitut für Schulen und Medien angewiesen, den betreffenden Punkt aus dem Curriculum zu streichen. Mehr als das: Die von Rupprechts Amtsvorgänger Reiche in Auftrag gegebene Studie über den armenischen Völkermord wurde gestrichen (JF 06/05). Daraufhin entstand ein Sturm der Entrüstung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Nachdem dann die armenische Botschafterin Karine Kazinian vorstellig wurde, lenkte die brandenburgische Regierung ein - unter dem Vorbehalt, in Zukunft auch den türkischen Standpunkt im Unterricht zu Geltung kommen zu lassen.

Allerdings scheint Ankara im Vorfeld der im Oktober beginnenden Verhandlungen zum EU-Beitritt bewußt geworden, daß man etwas tun muß, um die internationale Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Als erster Schritt wurde bekanntgegeben, daß die bisher fast undurchlässige türkisch-armenische Grenze weitgehend geöffnet werde. Und es gibt Andeutungen eines türkischen Staatssekretärs, daß sogar in dem offiziellen Standpunkt zum Genozid an den Armeniern ein Wandel eintreten müßte. Ob aber die türkische Armee, die an dem vor nahezu einem Jahrhundert begangenen Verbrechen maßgeblich beteiligt war, eine solche Umkehr tatenlos in Kauf nehmen würde, steht in den Sternen.

"Die vierzig Tage des Musa Dagh" gewinnen somit eine neue Aktualität. Lesenswert ist der große Werfel-Roman allemal. Und es stimmt einen nachdenklich, daß der zum Katholizismus konvertierter Prager Jude Franz Werfel, der im Ersten Weltkrieg als k.u.k.-Soldat an der ostgalizischen Front kämpfte, das literarische Denkmal des Leidensweges der christlich-orthodoxen Armenier geschrieben hat. Umgekehrt stammt das größte literarische Werk über die geistigen Wurzeln des Judentums aus der Feder des Lübecker Protestanten Thomas Mann - Zeugnis von der Universalität der Literatur.

Foto: Franz Werfel bei einer Lesung um 1930: Erneut in den Lichtkreis des öffentlichen Interesses gerückt

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. Fischer Verlag, 14. Auflage, 14,90 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen