© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/05 04. Februar 2005

Kleine Leute als historische Gestalter
Interesse am Fußvolk: Hans Schleiers voluminöse Geschichte der Kulturgeschichtsschreibung umschifft die "großen Männer" der Weltpolitik
Dirk Seelmann

Kulturgeschichte ist seit den 1970er Jahren durch verschiedene internationale Strömungen der Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie - unter anderem Volkskulturforschung, Alltags- und Mentalitätsgeschichte, Nouvelle Histoire, New Cultural History - sowie historische Betrachtungen in den modernen Kulturwissenschaften in den Vordergrund des Interesses, der Diskussion und der gefragten Publikationen gerückt. Gefördert wird dies auch interdisziplinär zum Beispiel durch die historische Anthropologie, die Ethnologie, die Sprachwissenschaften, die Kulturphilosophie oder - auf einer anderen Ebene - durch postmoderne Fragestellungen. So hat sich Kulturgeschichte in der Fachhistorie vieler Länder wie in der historisch interessierten Öffentlichkeit zunehmend breiteren Raum verschafft und Erörterungen bis in die Tageszeitungen ausgelöst."

Mit diesem "ersten Satz" beschreibt Hans Schleier nicht nur einen unter dem "Logo" der "Kulturwissenschaft" sich vollziehenden Paradigmenwechsel in den traditionellen "Geisteswissenschaften", dem auch die deutsche Geschichtswissenschaft unterworfen ist. Er plaziert überdies das eigene Forschungsprojekt, eine 1.200 Seiten umfassende, gleichwohl nur den ersten Band darstellende "Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung" in Gefilden, in denen sich der Zeitgeist tummelt und wo historische Forschung die Neugier von Laien erregt. Das ist, im hohen Emeritus-Alter, zugleich ein gelungener Bruch mit der eigenen Gelehrtenbiographie, denn als DDR-Historiker steckte Schleier bis 1989 methodisch wie ideologisch in Traditionen, die wenig mit "Nouvelle Histoire" am Hut hatten. Immerhin galt Schleier schon zu SED-Zeiten als Spezialist für die Geschichte der Geschichtswissenschaft, und sein dicker Band über "Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik" (1975) ist heute noch als respektable Leistung anzuerkennen, gerade weil es dem Autor, guten Vorsätzen zum Trotz, nicht gelang, die Disziplingeschichte ins Korsett marxistisch-leninistischer "Parteilichkeit" zu pressen.

Von linksliberalen Historikern der Weimarer Zeit, den Zierkusch, Kehr und Hallgarten, hat sich Schleier ein Vierteljahrhundert später den politisch in allen Farben schillernden Protagonisten deutscher Kulturgeschichtsschreibung zugewandt. Chronologisch beginnend im 18. Jahrhundert, mit Johann Christoph Adelung und dessen "Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts" (1782), geht die Reihe fort über vergessene Spätaufklärer zu den Matadoren der Vormärzära, unter denen Wilhelm Wachsmuth und Gustav Klemm vielleicht heute noch in dunkler Erinnerung sind. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die vergebliche Anläufe zur Institutionalisierung kulturhistorischer Forschung - kurzfristige Zeitschriftenprojekte wie erfolglose Bemühungen um universitäre Anerkennung - erlebt, dominieren populäre "liberaldemokratische" Kulturgeschichten, unter denen der Schweizer Otto Henne am Rhyn so schillernde Sujets wie den "Teufels- und Hexenglauben", "Prostitution und Mädchenhandel" oder die "Freimaurerei" monographisch behandelte und in hohen Auflagen absetzte. Ausgesprochene "Bestseller", die heute noch greifbar sind, schrieben Ferdinand Gregorovius, Wilhelm Heinrich Riehl, Felix Dahn oder der "preußenfromme" Kunsthistoriker Franz Kugler, dessen von Adolph Menzels illustrierte "Geschichte Friedrich des Großen" den "Alten Fritz" geradezu "erfunden" hat.

Schleiers Werk klingt aus mit einer Erörterung methodologischer Positionen, der von Treitschke gegen Riehl, den Begründer der Volkskunde, geltend gemachten Verpflichtung des Historikers auf Staat und politische Geschichte sowie der Treitschkes Anwürfe erneuernden Polemik Dietrich Schäfers gegen Eberhard Gothein.

Schleiers Opus setzt seinen Ehrgeiz primär darin, eine Bestandsaufnahme die Leistungen deutscher Kulturhistoriker von 1780 bis etwa 1900 zu geben. Das ist als positivistische Großtat verdienstvoll und mehr als bloß eine Versammlung von Inhaltsreferaten. Neben der herrschenden Geschichte der "Haupt- und Staatsaktionen" wird eine überraschend kompakte, alternative historiographische, zumeist von Außenseitern des Faches, von Archivaren, Bibliothekaren und anderen "freien" Autoren getragene Tradition sichtbar, die sich nicht um "große Männer" kümmert, die Geschichte machen, sondern um "kleine Leute", die das "siebentorigen Theben" und das "mehrmals zerstörte Babylon" bauten - jene, an die der von Schleier zitierte Bert Brecht in seinen berühmten "Fragen eines lesenden Arbeiters" erinnert.

Insofern diese "Unterschicht", das "Volk", das sich im 19. Jahrhundert zum "Proletariat" formiert, stets auch Gegenstand der Kulturgeschichte war, läuft Schleier also noch ein wenig in alten DDR-Spuren, wenn er sich dieser Variante der Geschichtsschreibung zuwendet. Und gelegentlich klingen in wertenden Stellungnahmen alte politische Präferenzen an, so etwa, wenn er bei Henne am Rhyn 1908 Warnungen vor imperialistischer "Amerikanisierung" entdeckt und zustimmend kommentiert: "Wie vorausschauend!" Daß er deshalb mit Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka die "moderne Kulturgeschichte" verdächtigt, die "Härte der sozialen Ungleichheit" wie den "profitgierigen Sozialabbau im Rahmen der Globalisierung und Amerikanisierung" zu vernebeln, ist nur konsequent.

Die Kehrseite von Schleiers fleißigem Positivismus ist ein unübersehbares Theoriedefizit. Hier steht er in der Tradition seiner eigenen Klientel, der er nachweist, daß sie nie sehr präzise anzugeben vermochte, warum sie kompilatorisch Materialberge aufhäufte und nicht imstande war, eine "anerkannte Geschichtstheorie und Methodologie des Kulturhistorischen" zu liefern. Eher undeutlich bleibt aber auch bei Schleier, was außer Wiedervergegenwärtigung und Traditionsvergewisserung sein Rückblick auf die Kulturgeschichtsschreibung denn aktuellen Fachdiskursen zu bieten habe. Vielleicht hätten doch die von ihm unterschätzten "kollektiven Sinnstiftungsprozesse", an denen gerade auf breite Leserschichten zielende Kulturhistoriker mitwirkten, als Sonden im Textmeer dienen können. Zumal man außer der Erklärung, daß die Hinwendung zur Kulturgeschichte nach 1848 sich der Autoren und Leserschaft gemeinsamen politischen Enttäuschung verdanke, fast nichts darüber erfährt, warum und unter welchen wechselnden Voraussetzungen diese Form der Geschichtsschreibung als "Daseinsorientierung" überhaupt rezipiert werden konnte.

Ungeachtet dieser Einwände und ungeachtet einer größeren Zahl störender Druckfehler ist das Verdienst Hartmut Spenners, dessen Name auch für ein vorzügliches sortiertes theologisches Antiquariat bekannt ist, zu loben, dieser Revision der kulturhistorischen Bestände ein Verlagsobdach geboten zu haben. Schade nur, daß Schleiers Helden, ihrem Metier adäquat, uns nicht auch mittels Porträt und Foto vorgestellt werden. 

Hans Schleier: Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreiburg, Band 1: Vom Ende des 18. bis Ende 19. Jahrhunderts. Hartmut Spenner Verlag, Waltrop 2003, 2 Teilbände, zusammen 1.191 Seiten, 68 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen