© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/05 04. Februar 2005

Die Lust an Not und Pein des Humankapitals
Bittere Wahrheiten auf zweierlei Art: Was Bert Brechts "Dreigroschenoper" mit Günter Oggers Bestandsaufnahme der "Betrüger-Wirtschaft" zu tun hat
Walter Thomas Heyn

Was ist bloß los im Land der Dichter und Denker, in unserem auf pure Betriebswirtschaftlichkeit reduzierten Standort, vormals Deutschland? Diese Frage stellt sich fast jedem fast jeden Tag, und wer sie nicht mehr stellt, ist meistens schon mittendrin im Schlamassel. Das Unwort für das Unding des Jahres heißt denn auch folgerichtig "Humankapital".

Um humanes Handeln aber geht es kaum in der "Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht und Kurt Weill, vielmehr fast ausschließlich um das Kapital, um seine Erbeutung und seine Verteilung, um das Abrechnungswesen und immer wieder um Prozente und Lizenzen, buchstäblich herausgeschlagen aus den Ärmsten der Armen. Alles ist Geschäft, alles ist Ware, jedes Mittel ist recht, und der Knüppel des Stärkeren regiert. So jedenfalls stellt sich die Gesellschaft dar in der "Dreigroschenoper", die vor wenigen Tagen im Landestheater Neustrelitz Premiere hatte.

Das berühmte "alte" Stück wird wieder brennend aktuell: Der Brecht'sche Text von 1928 liest sich wie eine Glosse auf die Vorgänge der Gegenwart. Die Opfer von damals und die Opfer von heute unterscheidet nur - und vermutlich auch nur bis auf weiteres - der Grad ihrer Armut.

Regisseur Wolfgang Ansel (Hamburg) ging an das Werk heran, ohne Aussagen politischer Aktualität zu verweigern - und ohne übertriebene Ehrfurcht vor dem übermächtigen Dichter Brecht aufkommen zu lassen. Er erarbeitete eine schlüssige und zeitgemäße Inszenierung, die das Ensemble in eine text- und ablaufgenaue, vielschichtige Lesart des "berühmten" Stückes umsetzte. Plastisch herausgearbeitet sind die verschiedenen Interessenkonstellationen mit all ihren Wendungen, Brüchen und opernhaften Zufällen.

Ganz im Sinne des großen BB haben die Darsteller alle immer mal wieder etwas zu lernen, wobei der Lernvorgang meistens durch eine Tracht Prügel oder durch Erpressung im großen Stil befördert wird. Über jedem "Da könn'se was lernen", das von der Bühne herab gesprochen wird, liegt das messerscharfe, zweischneidige "It's good for you", mit dem englisch sprechende Underdogs den jeweils anderen verbal noch tiefer ins Unglück drücken. Das alles ist ganz in der Tradition des englischen Theaters mit seiner Lust an makabren Geschehnissen, an der Not und der Pein, die der "Kreatur Mensch" in bitterschwarzen und zugleich unterhaltenden Bildern zugefügt wird.

Auf der Fahrt nach Neustrelitz gab es was Neues zu lesen: "Die EGO AG - Überleben in der Betrüger-Wirtschaft" von dem 1941 geborenen namhaften Wirtschaftspublizisten Günter Ogger. Seine Manager-Kritik in Buchform "Nieten in Nadelstreifen" wurde eines der erfolgreichsten Sachbücher der Nachkriegsgesellschaft. Auch die nachfolgenden Titel wie "Das Kartell der Kassierer", "König Kunde - Angeschmiert und abserviert" und "Absahnen und abhauen" eroberten die Bestseller-Listen.

In seinem jüngsten Buch beschreibt Ogger das System der herrschenden Ellenbogengesellschaft als Ergebnis des an Härte und Brutalität immer mehr zunehmenden Verteilungskampfes, bei dem Politiker sich die Taschen füllen, aber keine Probleme lösen, und Unternehmer und Manager Tausende in die Arbeitslosigkeit entlassen und dafür Millionen kassieren.

Dem Bürger will halt jeder an den Geldbeutel

Dabei - das führt Ogger anhand zahlreicher sauber recherchierter Einzelfälle penibel aus - handelt es sich nicht mehr um Einzelfälle, sondern um die Normalität der herrschenden Betrüger-Ökonomie, in der jeder versucht, jeden hereinzulegen.

Brecht beschreibt in seinem Stück die "Geschäftsidee" des Londoner Bettlerkönigs Peachum, Inhaber der Firma "Bettlers Freund", der das Mitleid der Menschen mit der "Kreatur" ausbeutet, indem er fromme Bibelsprüche mit der Erzeugung von Ekelwirkung (gemildert durch Ehrenzeichen) so kombiniert, daß der Passant in "jenen unnatürlichen Zustand versetzt wird, in dem er bereit ist, Geld herzugeben".

Zugleich beschreibt Brecht die immer größer werdende Geschwindigkeit des "Fahrstuhles", mit dem die Menschen nach unten durchgereicht werden. "Der Mensch ist des Menschen Feind - die Welt ist kein Spaß", brüllte der "ärmste Mann von ganz London", ebenjener Bettlerkönig, seine Mitarbeiter an, um sie anschließend wegen Phantasielosigkeit beim Betteln zu entlassen.

Ogger schildert die ganze Palette der Tricks der derzeitigen Betrügerwirtschaft: Dem Bürger will halt jeder an den Geldbeutel. "Denn in dieser gar nicht mehr schönen Wirtschaftswelt hat der ehrliche Mitspieler schlechte Karten. Ob als Angestellter oder als Verbraucher, als Patient, Häuslebauer oder Geldanleger - stets läuft man Gefahr, ausgenutzt, übervorteilt und betrogen zu werden. Wer die Beute hat, ist Sieger im freien Spiel der Kräfte" (Ogger). Den Rest erledigen die Anwälte. Und das Heer der Betrogenen wächst von Tag zu Tag.

Wer heute Täter ist, kann aber morgen schon Opfer sein. Auch das beschreibt die Neustrelitzer Inszenierung in eindrucksvollen Bildern. Glanzstücke des Abends sind Peachums (Michael Meister) diverse "Festvorbereitungen" anläßlich der Krönung der jungen Königin, die er dazu nutzen möchte, den ungeliebten "Schwiegersohn" Mac-heath, den Berufsverbrecher "Mackie Messer", loszuwerden, der weiß, daß man nur im Wohlstand angenehm leben kann, und sich halt seinen Teil vom Kuchen abschneidet.

Mackie Messer (Kai Roloff) liefert sich nicht nur brillante Duelle mit dem Polizeichef Brown (Arno Sudermann). Ihm gelingt es, vor allem den dritten Akt in überzeugender Form zu "seinem" Akt zu machen. Hervorragend besetzt sind auch die Frauenrollen, allen voran die Polly von Kristina Günther-Vieweg, die eine überzeugende Wandlung vom naiven Mädchen zur knallharten, aber nicht gefühllosen Geschäftsfrau vorführt, und die Spelunken-Jenny von Franka Anne Kahl, die in ihrer Rollengestaltung auch den musikalischen Kontrast zwischen Oper und Gosse brillant herausstellt.

Was bleibt aus diesen beiden Lektionen? Die Verhältnisse, die, nach Brecht, nicht so sind, wie sie sein sollten, werden sie sich ändern? Zum Guten gar? Oder zieht am Horizont auf eine düstere Welt herauf - voll Betrug und Gewalt in den nicht mehr bewohnbaren Städten, bevölkert mit Gangs aus aller Herren Länder, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft?

Die nächsten Vorstellungen finden statt am 5. Februar, 3. und 24. März sowie 3. April jeweils um 19.30 Uhr im Großen Haus des Landestheaters Neustrelitz.

Günter Ogger: Die EGO AG - Überleben in der Betrüger-Wirtschaft. C. Bertelsmann-Verlag, München 2003, geb., 22,90 Euro


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