© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/05 04. Februar 2005

Gericht entscheidet über Enteignungen
Neusiedlererben: Ehemalige DDR-Bürger klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Klaus Peter Krause

Draußen winterliche Kälte und Schneetreiben, drinnen richterliche Kühle und juristischer Schlagabtausch. Abermals ging es vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg um die Beschwerde von fünf einstigen DDR-Bürgern gegen die Bundesrepublik Deutschland. An gleicher Stelle hatte vor einem Jahr eine Kammer des Gerichts die Beschwerde der fünf für berechtigt erklärt. Die Bundesregierung rief daraufhin die Große Kammer des Gerichts an. In der vergangenen Woche fand hierzu die mündliche Verhandlung statt.

Es geht um Agrarland. Alle Beschwerdeführer haben das Land von ihren Eltern geerbt. Den Eltern war es 1945/46 während der sowjetischen Besatzungszeit als privates Eigentum zugeteilt worden. Zuvor hatten es die kommunistischen Herrscher jenen Landwirten und "Junkern" entrissen, die 100 Hektar und darüber besaßen und die sie als politischen Gegner und "Klassenfeind" verfolgten, vertrieben, deportierten und umbrachten. Diese Verfolgung mit der Umverteilung von Agrarland nannten sie verharmlosend "Bodenreform" und die Empfänger - deren Vertreibung aus der Heimat verschleiernd - Neusiedler, Umsiedler oder Neubauern.

Allerdings durften die Empfänger ihr Land nicht an andere übertragen, nicht verpachten, nicht verpfänden und es nicht teilen - aber vererben. War der Eigentümer zum Bewirtschaften nicht mehr bereit oder in der Lage, sollte es anderen zugeteilt werden. Doch sind solche Rückführungen meist unterblieben. Dann, als das Ende der DDR nahte, hat die Volkskammer unter ihrem SED-Ministerpräsidenten Hans Modrow mit Wirkung vom 16. März 1990 alle Verfügungsbeschränkungen aufgehoben. Besiegelt ist das im "Gesetz über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform" - kurz als "Modrow-Gesetz" bezeichnet. Es übertrug den Eigentümern nunmehr die vollen Eigentumsrechte. Eigentümer waren damals meist schon die Erben der ursprünglichen Empfänger.

Inzwischen aber hat der Staat vielen Erben das Land entschädigungslos abgenommen, durchgesetzt mit dem Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14. Juli 1992. Die Betroffenen mußten nicht nur das Land entschädigungslos herausgegeben, sondern an den Fiskus der neuen Bundesländer auch alle etwaigen Pachteinnahmen oder Verkaufserlöse abführen. Jedenfalls galt das für solche Erben, die nicht am 15. März 1990 oder in den zehn Jahren davor in der Land-, Forst- oder Nahrungsmittelwirtschaft tätig gewesen waren oder keiner Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) angehört hatten.

Damit setzte der Bundesgesetzgeber für diese Erben, die vor dem 16. März 1990 geerbt hatten, jenes DDR-Recht wieder in Kraft, wie es bis zum Modrow-Gesetz gegolten hatte. Auf diese Weise exekutierte der Rechtsstaat Deutschland nachträglich und rückwirkend nun ausgerechnet das, was die DDR in vielen Fällen nicht angewendet und die Modrow-Regierung bewußt außer Kraft gesetzt hatte.

So jedoch habe der Gesetzgeber geradezu verfahren müssen, legte der Prozeßvertreter der Bundesregierung, Jochen A. Frowein, dar. Das Modrow-Gesetz habe nämlich eine Gruppe von Bodenreformlanderben begünstigt und eine andere benachteiligt. Die Benachteiligten seien jene DDR-Bürger, die das Land vorschriftsmäßig an den DDR-Bodenfonds hätten abgeben müssen, weil sie weder LPG-Mitglieder noch in der Land-, Forst und Nahrungsgüterwirtschaft mehr tätig gewesen seien.

Durch bloßen Zufall Eigentum erlangt

Die Begünstigten dagegen seien dem entgangen, weil die Behörden untätig geblieben seien. Sie also hätten mit dem Modrow-Gesetz willkürlich und durch bloßen Zufall Eigentum erlangt, und die Benachteiligten besäßen überhaupt keins mehr. Die Benachteiligten würden also gegenüber den Begünstigten ungleich behandelt. Diese Diskriminierung habe der Gesetzgeber nicht hinnehmen dürfen. Das Gesetz von 1992 habe den Zweck gehabt, dieses willkürliche Ergebnis zu vermeiden, und daher in die Eigentumsrechte der Begünstigten eingreifen müssen.

Froweins Argumentation lautete: Der Gesetzgeber mußte Gleichheit schaffen und daher die Begünstigten genauso schlecht stellen wie die Benachteiligten. Auf diesen Kern hatte er sein ganzes Plädoyer ausgerichtet und ihn in vielerlei Variationen und Bekräftigungen den Richtern nahezubringen versucht. Den Erben sei das Land durch das Modrow-Gesetz ungewollt und daher als "zufälliges Eigentum" zugefallen. Daher seien sie illegitime Eigentümer geworden. Folglich sei es legitim, es ihnen entschädigungslos zu entziehen.

Dem widersprachen die Anwälte der Beschwerdeführer, Beate Grün und Thorsten Purps, vehement. Was der Gesetzgeber hergestellt habe, sei Gleichheit im Unrecht, herstellen dürfe er nur Gleichheit im Recht. Purps begründete, daß die entschädigungslose Enteignung der Erben gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße und das Gesetz von 1992 die Erben nachhaltig diskriminiere. Außerdem warf er der Bundesregierung "Beliebigkeitswandel in der Argumentation" vor. Diese Argumentation fuße nur auf einem "Fundament von Fehleinschätzungen, Rechtsirrtümern und Beliebigkeitsmerkmalen", die außergewöhnliche Umstände für eine entschädigungslose Enteignung unter keinem Gesichtspunkt rechtfertigen könnten.

Grün hielt der Regierung entgegen, jenes Gesetz von 1992 beruhe auf dem Irrtum, Bodenreformeigentum sei bis zum Stichtag 15. März 1990 in der früheren DDR nicht vererblich gewesen. Es gehe davon aus, erst das Modrow-Gesetz habe vom 16. März an die Vererblichkeit hergestellt. Dieser Irrtum beherrsche das gesamte Gesetz. Aber da die Vererblichkeit schon immer bestanden habe, breche die "ganze phantastische Gesetzestechnik" zusammen. Die Erben seien vor 1990 ebenso Volleigentümer gewesen wie nach diesem Datum. Weder sei der Eingriff in deren Eigentum gesetzlich vorgesehen, noch liege er im öffentlichen Interesse, noch sei er verhältnismäßig. Mit dem entschädigungslosen Entzug des geerbten Eigentums habe Deutschland gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Grün sprach von einem "verkümmerten Eigentumsbewußtsein" des Staates und rief sarkastisch: "Willkommen, Bundesrepublik Deutschland, im Marxismus-Leninismus!"

Wie die Richter entscheiden, gilt als offen. Erwartet wird die Entscheidung in etwa drei Monaten. Die Ansicht, falls Deutschland den Prozeß verliere, kämen auf Bund und Länder Forderungen in Milliardenhöhe zu, verkennt, daß der Staat dann nur das herausgeben muß, um das er sich rechtswidrig und ungerechtfertigt bereichert hat: entweder das noch nicht verkaufte Land oder den eingestrichenen Verkaufserlös.


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