© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/05 28. Januar 2005

"Auf das Pferd steige ich Ihnen nicht!"
Der SPD-Vordenker Peter Glotz über die Verdrängung der Vertreibung, das geschichtliche Selbstverständnis Deutschlands und seine Bedenken gegen den Begriff der "Nationalen Identität"
Dieter Stein / Moritz Schwarz

Herr Professor Glotz, in Ihrem Buch "Die Vertreibung" schreiben Sie, Sie hätten vier Jahrzehnte gebraucht, um sich dem Thema Vertreibung und Ihrer Identität als vertriebener Deutscher zu nähern.

Glotz: Es ist das Schicksal des Flüchtlings, daß er sich an neue Gegebenheiten anpassen muß. Deshalb habe ich zumeist - wie so viele andere auch - Mimikry betrieben, etwa was die Sprache, also den Dialekt, angeht. Dazu kam der durch die Neue Ostpolitik verursachte Bruch mit den Vertriebenenverbänden, die zuvor absolut überparteilich waren. Denken Sie etwa an Wenzel Jaksch, der von 1964 bis zu seinem Unfalltod 1966 Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen (BdV) war und den ich für einen bedeutenden Sozialdemokraten halte. Aber es gab in den Vertriebenenverbänden leider auch Leute, die mit dem Ruf "Brandt an die Wand!" reagiert haben - das hat mich natürlich abgeschreckt.

Welche Rolle spielte, daß die Vertriebenen zunehmend gesellschaftlich verunglimpft wurden?

Glotz: Sicher war auch ich von einem gewissen Opportunismus gegenüber dem Zeitgeist ergriffen - und nicht nur ich, sondern ein großer Teil der Linken. Antje Vollmer oder Otto Schily zum Beispiel haben das inzwischen ebenso eingestanden. Das hing aber natürlich auch mit der Entspannungspolitik zusammen, die darauf abzielte, mit den kommunistischen Regimen zu einer tragfähigen Regelung der Verhältnisse in Europa zu kommen, und bei denen waren die Vertriebenen nun mal schlecht angesehen. Wenn man da die Vertreibung überhaupt nur ansprach, fiel sofort der Vorhang. Die Vertriebenen in der DDR mußten sich bekanntlich sogar selbst verleugnen, sie durften noch nicht einmal den Satz "Ich bin vertrieben worden" formulieren. Es braucht vermutlich eine gewisse Zeit, bis solche Ereignisse historisiert werden können. Denken Sie zum Beispiel an das Buch von Jörg Friedrich "Der Brand", das etwa zur selben Zeit wie mein Buch erschienen ist. Auch der Bombenkrieg ist jahrzehntelang nur sehr zaghaft und verschämt thematisiert worden, obwohl Millionen von Menschen davon betroffen waren.

Es fällt auf, daß eine Revision in den Ansichten fast ausschließlich von älteren Linken wie Friedrich, Grass oder Ihnen kommt.

Glotz: Das hat wohl auch damit zu tun, daß man mit sechzig, siebzig Jahren weniger gutwillig gegenüber politischen Formelkompromissen und dem "wegdrückenden" Gerede ist, das sich bei uns in puncto Vertreibung eingebürgert hat.

Wie es zum Beispiel beim Deutsch-Tschechischen Forum praktiziert wird?

Glotz: Ja, das alle wirklich wichtigen Themen eigentlich nur umkreist - und wohl auch umkreisen muß - wie die Katze den heißen Brei.

Sind Sie enttäuscht über die immer noch kritischen Reaktionen auf Ihr Buch?

Glotz: Nein, mein Buch hat zwar vielfältige kritische Reaktionen ausgelöst - aber alles im Rahmen. Gegen Kritik ist nichts einzuwenden.

Gilt das auch für die Kritik, die dem von Ihnen zusammen mit BdV-Präsidentin Erika Steinbach betriebenen Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen entgegenschlägt?

Glotz: Ich gebe zu, daß ich von den Reaktionen darauf insbesondere in Polen überrascht war.

Frau Steinbach nannte den SPD-Bundestagsabgeordneten Markus Meckel in einem Interview mit dieser Zeitung (JF 39/03) quasi als den Strippenzieher dieser Eskalation.

Glotz: "Strippenzieher" ist ein falscher Begriff. Aber in der Tat begann die Diskussion darüber in Polen ganz moderat - bis zu der Erklärung, die mein Kollege Meckel zusammen mit einer Reihe von Intellektuellen aus den Vertreiberstaaten lancierte. Danach nahm der Unmut einen Umfang an, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Man hat den Eindruck, daß die Reaktionen in Polen auf das geplante Zentrum gegen Vertreibungen viel heftiger sind als in der Tschechischen Republik. Warum?

Glotz: Das ist in der Tat erstaunlich, denn jahrzehntelang war unser Verhältnis zu Polen wesentlich besser als das zur Tschechischen Republik. Zumal die Polen schon viel mehr "schwierige Geschichte" aufgearbeitet haben als die Tschechen.

Also woran liegt es, daß man sich in Prag weit weniger über Ihr Zentrum aufregt?

Glotz: Václav Klaus ist ein Stratege. Er hält sein Lager ruhig.

Die Stiftung hatte 2003 bereits eine Immobilie in Berlin-Kreuzberg fest im Auge, einen ehemaligen Gasometer und Hochbunker (JF 40/03). Daraus ist nichts geworden. Welche Chancen sehen Sie noch für das Zentrum?

Glotz: Wir konzipieren derzeit eine Ausstellung über das 20. Jahrhundert mit dem Titel "Das Jahrhundert der Vertreibungen": Die Darstellung beginnt mit dem Schicksal der Armenier und endet mit den "ethnischen Säuberungen" im Kosovo. Die Schau soll im Herbst 2006 in Berlin gezeigt werden. Ein eigenes Museum können wir aber ohne öffentliche Unterstützung nicht bauen, und diese Unterstützung haben wir derzeit nicht.

Sie haben mehr Unterstützung als manch anderes Projekt, warum fangen Sie nicht einfach an?

Glotz: Wir würden lediglich die Unterstützung einiger CDU-geführten Länder erhalten. Das will ich aber nicht, das Projekt sollte überparteilich sein.

Damit riskieren Sie allerdings, daß das Zentrum gegen Vertreibungen nie zustande kommt. Ist das zu verantworten, in Anbetracht der Tatsache, daß die Erlebnisgeneration wohl nicht mehr lange lebt?

Glotz: Solche Projekte dauern. Denken Sie an Lea Rosh.

Das Jahr 2005 könnte einen neuen Höhepunkt in der geschichtspolitischen Debatte bringen, denn im Mai jährt sich die Kapitulation Deutschlands zum sechzigsten Mal. Dann wird vermutlich erneut "festgestellt" werden, daß es sich um eine Befreiung gehandelt hat. Drückt man die historische Erfahrung der Erlebnisgeneration mit der Wertung als "Befreiung" nicht erneut ebenso an den Rand, wie es bislang schon bei Bombenkrieg und Vertreibung geschehen ist?

Glotz: Es kann gar kein Zweifel sein, daß sich die Gefangenen in Lagern wie Auschwitz oder Dachau befreit fühlten, als die Alliierten kamen. Auch die Widerständler vom 20. Juli, aber auch viele Nazi-Gegner, die sich weggeduckt hatten, haben es so empfunden.

Am 27. Januar jährt sich außerdem die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum sechzigsten Mal. Sie schreiben in Ihrem Buch, die Tschechen erinnerten sich noch heute sehr lebendig der Schlacht am Weißen Berg vor fast vierhundert Jahren während des Dreißigjährigen Krieges. Müssen wir nicht realistischerweise davon ausgehen, daß uns Deutsche der Holocaust "noch in 1.000 Jahren" beschäftigen wird?

Glotz: Das glaube ich auch. Die Historisierung verändert nur den Blick auf den Holocaust, bewirkt aber nicht, daß er aus unserem Blickfeld verschwindet.

Ist es aber nicht etwas völlig anderes, wenn Joschka Fischer Auschwitz als Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet?

Glotz: Ich glaube, daß Fischer recht hat. Auschwitz ist ein wesentliches Element des deutschen Selbstverständnisses geworden, und das ist auch richtig so. Natürlich ist es aber nicht der einzige Geschichtsmythos der Bundesrepublik.

Was fällt Ihnen noch ein?

Glotz: Zum Beispiel der "Bruderkuß" zwischen Adenauer und de Gaulle im Dom von Reims oder der Kniefall Willy Brandts im Warschauer Ghetto.

In der Tageszeitung "Die Welt" kommentierte der Schriftsteller Michael Kleeberg Fischers Sentenz folgendermaßen: "Es lohnt, eine Weile innezuhalten und zu überlegen, was eine solche Antwort bedeutet. Ein Staat, so scheint mir, der tatsächlich auf Auschwitz beruht, kann nur eine Finalität haben, nämlich zu verschwinden ... Ein Staat Deutschland, der statt auf den Toten seiner Revolution auf den Leichen der von seinen Vätern vergasten ruht, dessen einzige Aufgabe wäre es, sich selbst und seinen Namen abzuwickeln." Hat Kleeberg recht?

Glotz: Nein. Viele Völker hatten fürchterliche Verbrechen zu verarbeiten und haben sie auch verarbeitet. Der Holocaust war das fürchterlichste Verbrechen der jüngeren Geschichte. Die Bonner Republik war aber auf gutem Weg, die eigene Geschichte nicht zu verdrängen, sondern zu verarbeiten. Ich hoffe, daß die Berliner Republik da anknüpft.

Sie haben den Begriff "Identität" als "Psycho-Begriff" bezeichnet. Warum?

Glotz: Natürlich kann man den Begriff auch sinnvoll gebrauchen, leider ist das aber nur selten der Fall. In der Regel fällt er in problematischen Debatten ...

Zum Beispiel?

Glotz: Etwa wenn es um Ausländer geht oder um "Leitkultur". Der Begriff wird meist so verwandt, daß man sagen muß, er kommt direkt "von der Couch".

Wieso halten Sie Identität für etwas Psychopathologisches?

Glotz: Nochmal: Natürlich kann man den Begriff auch vernünftig benutzen - so, wie ihn zum Beispiel Jürgen Habermas benutzt-, aber er wird meist überbetont oder ethnisch aufgeladen. Das, was man in der Geschichte "Deutschland" nennt, umfaßte tatsächlich viele verschiedene Kulturkreise, da gab es zum Beispiel die germanischen Sachsen ebenso wie das römische Trier. Von dieser Symbiose haben wir ungeheuer profitiert. Im 19. Jahrhundert haben wir dann unsere Identität als eine rein "germanische" definiert, und Hitler hat dem Ganzen mit dem Unsinn vom "Ariertum" die Krone aufgesetzt.

Sie tun so, als wäre die Frage nach der überindividuellen Identität eine künstliche, überflüssige Erfindung. Ist sie aber nicht eine "conditio humana"? Und lag die Frage der Identität nach dem Zerbrechen der mittelalterlichen Welt nicht sozusagen "auf der Straße", von wo sie der Nationalstaat quasi aufgehoben hat?

Glotz: Auf der Straße liegt vieles, gelegentlich auch Minen.

Die Nation spielt für den historischen Prozeß, den wir "Moderne" nennen, eine eminent wichtige Rolle, denn sie bildete den Rahmen für die Emanzipation. Ohne Identität keine Moderne!

Glotz: Das stimmt doch nicht. Warum kamen zum Beispiel die französischen Könige zu einer kohärenteren Staatlichkeit als die deutschen Kaiser? Bestimmte Heerführer ragten heraus, bildeten Sippen, die sich schließlich als "Völker" zu verstehen begannen. Tatsächlich ist "Frankreich" bereits vor dem Jahr 1000 entstanden - was hat das also mit Ihrer Art von "Identität" zu tun? Die ganze Debatte um Nationen in unserem Sinne kam in Wirklichkeit erst im frühen 19. Jahrhundert auf.

Bereits die Humanisten "entdeckten" die Nation, das 19. Jahrhundert war lediglich das Jahrhundert der "Massenwirksamkeit" der nationalen Identität. Und die Jahrhunderte davor waren ebenso vom Faktor der Identität erfüllt - nur wurde sie damals durch andere Autoritäten als die Nation determiniert. Warum sträuben Sie sich so gegen das Thema?

Glotz: Ich sträube mich nicht, ich glaube einfach, daß man zumeist nur "Identität" sagt und Ideologie meint. Der Begriff wird historischen Prozessen von Ideologen gern nachträglich übergestülpt. "Identität" höre ich meistens dann, wenn einer eigentlich nur sagen will, es gäbe zu viele Türken in Deutschland. Deshalb bin ich skeptisch - auch gegenüber den gebildeten Gesprächen, die wir derzeit zu diesem Thema führen.

Was meinen Sie? Darf die Einwanderung nicht kritisiert werden?

Glotz: Doch, natürlich. Eine Gesellschaft kann sich nur ein gewisses Maß an Einwanderung zumuten, wenn sie gewisse Konflikte vermeiden will. Die Frage, wie hoch dieses Maß ist, darüber kann man sich durchaus streiten.

Zum Beispiel?

Glotz: Die Schweiz etwa hat zwanzig Prozent Ausländer und lebt recht gut damit, weil ihre Politik so intelligent gestaltet ist, daß diese Herausforderung gemeistert wurde. Wir haben dagegen nur die Hälfte und sehen überall Probleme. - Andererseits ist mir aber klar, daß man nicht beliebig viele Menschen aus allen Ecken der Welt nach Niedersachsen, Friesland oder Thüringen transportieren kann, ohne Konflikte zu provozieren. Deshalb muß Einwanderung gesteuert werden.

Was empfehlen Sie für Deutschland?

Glotz: Ich halte die Politik des Innenministers für richtig, Einwanderern auch gewisse Leistungen wie zum Beispiel eine gewisse Sprachkompetenz abzuverlangen - sie dabei aber auch zu unterstützen.

Die Schweiz hat eine sehr ausgeprägte eidgenössische Identität. Wie soll Integration ohne Identität - wie in Deutschland - funktionieren? Denn der Zusammenhang zwischen Identität und Einwanderung ist doch die Frage, was hält eine Gesellschaft zusammen Wenn man den Einwanderern ermöglichen will, sich auch als Deutsche zu fühlen, dann muß man etwas haben, womit sie sich identifizieren können.

Glotz: In der Tat beginnt das Problem schon mit der Frage, wie viele Einwanderer sich überhaupt als Deutsche fühlen wollen. Es ist richtig: Die Frage ist, was die Menschen zusammenhält. Sie sagen: "Identität". Ich sage: zum Beispiel Sprache, Religion und vor allem soziale Sicherheit. Wer in Anatolien gehungert hat, in Kreuzberg aber einen eigenen Gemüseladen hat, dem kann die "Heimat" egal sein. Trotzdem werden Menschen immer unterschiedliche Konsequenzen aus solchen Erfahrungen ziehen. So haben sich zum Beispiel auch viele Gastarbeiter dafür entschieden, im Alter wieder in ihre Heimatländer zurückzukehren. Das wollen wir niemandem vorschreiben. Wir wollen aber Regelungen, damit unsere Gesellschaft weiterhin vernünftig funktioniert.

Tatsächlich haben wir es in der dritten Generation von Einwanderern weniger mit Integration als mit einer Reethnisierung zu tun.

Glotz: Es gibt die vielfältigsten Reaktionen auf die Erfahrung der Einwanderung. Wir haben es in Deutschland zu Parallelgesellschaften kommen lassen. Das war nicht klug. Jetzt haben wir sie in Frankfurt, Köln oder Berlin. Wir sollten uns sehr überlegen, ob wir sie auch noch in Lüneburg, Plauen oder Regensburg haben wollen.

Sie mahnen stets allgemein zur Vorsicht, antworten aber nicht auf die Frage, ob nicht ein Gutteil dieser Probleme auf einen falschen Umgang mit dem Faktor Identität zurückgeht.

Glotz: Ich habe mich doch bereits mehrfach dazu erklärt! Ich mag den Begriff nicht, weil er mißbraucht worden ist, räume aber ein, daß er auch vernünftig gebraucht werden kann. Wenn Sie "Identität" als Spitzmarke für die JUNGE FREIHEIT gebrauchen wollen, so ist das in Ordnung. Wundern Sie sich aber bitte nicht, wenn ich ihn einen Psycho-Begriff nenne. Oder wollen Sie in Wirklichkeit nur mit mir über Ausländerpolitik reden? Dann sage ich Ihnen, da teile ich die Position des Bundesinnenministers, nicht die von Günther Beckstein, aber auch nicht die von Volker Beck.

Nein, es geht nicht in erster Linie um Ausländer, sondern um Deutschland. Etwas stimmt mit unserem Land nicht, und diese Tatsache können Sie unter anderem an der Einwanderung beziehungsweise der vielfach gescheiterten Integration ablesen. Zum Beispiel, daß wir Ausländern gar nichts anbieten können, um auch "ihre Herzen zu gewinnen". Oder glauben Sie, ein junger Ausländer möchte gerne zu einer Nation gehören, die allein auf Auschwitz gründet!?

Glotz: Auf dieses Pferd steige ich Ihnen nicht! Die Mehrheit der Migranten nutzt durchaus die Möglichkeit, dazuzugehören, wenn man sie ihnen nur anbietet. Außerdem habe ich schon gesagt, daß die Bundesrepublik nicht nur auf Auschwitz gründet.

Dem Nationalstaat gehörte in der Vergangenheit stets ein hohes Maß an Identität, sprich Loyalität. Diese Identifizierung nimmt ab, die Gesellschaft strebt einem gewissen Tribalismus zu. Ist es nicht gefährlich, wenn Loyalitäten lokal werden, statt sich auf den gemeinsamen Staat zu richten?

Glotz: Der Begriff "Tribalismus" trifft vielleicht für den Irak zu, aber für Deutschland ist er übertrieben. Im übrigen ist schon so mancher Nationalstaat gerade durch "Identität" bedroht oder gar gesprengt worden: Ich nenne zum Beispiel Jugoslawien oder die Tschechoslowakei, oder denken Sie an Belgien, Kanada, die Türkei oder die Ukraine. Wenn Sie dem Prinzip der "Identität" zu weit folgen, würden dort überall kleine Staaten entstehen.

Zumindest bis 1989 hat auch die SPD das Selbstbestimmungsrecht der Völker offiziell hochgehalten!

Glotz: Solange die Leute das vernünftig machen, habe ich auch gar nichts dagegen. Wie zum Beispiel bei der völlig friedlichen Abspaltung Norwegens von Schweden vor genau hundert Jahren oder wie im Fall Tschechoslowakei. Und wenn sich eines Tages auch noch die Shetlandinseln abspalten wollen, weil sie meinen, eine eigene Identität zu haben, dann bitte.

Bei Ihnen klingt es, als sei Identität etwas für Hinterwäldler. Dabei hat sie Europa vor dem Totalitarismus bewahrt, denn sie hat den Kommunismus gesprengt und den Nationalsozialismus besiegt: Bekanntlich haben die alliierten Soldaten nicht für die abstrakte Idee der Demokratie, sondern für die Freiheit ihrer Vaterländer gekämpft.

Glotz: Ich sage nur, daß man vorsichtig sein sollte, sonst haben wir bald 500 Staaten auf der Welt, von denen 450 nicht lebensfähig und 250 miteinander im Krieg sind.

Gerade die Geschichte der SPD zeigt, wie wichtig die Integration von Identität in den Staat ist. Sie hat verhindert, daß sich die Arbeiter eine kommunistisch-revolutionäre Identität zugelegt und - verkürzt gesprochen - wie in Rußland den Staat gesprengt haben. Die SPD hat die Arbeiterschaft in den deutschen Nationalstaat integriert und so von 1871 bis 1918 die ganz große Katastrophe verhindert.

Glotz: Auch wenn Sie den Begriff Identität auf die Sozis münzen, versöhnen Sie mich nicht.

Das ist kein Trick. Ihr Parteigenosse Egon Bahr sagte im Interview mit dieser Zeitung (JF 46/04): "Wir können uns eine Fehlfunktion oder gar die Lahmlegung Deutschlands als Nation nicht leisten. Wir müssen lernen, wieder eine normale Nation zu sein."

Glotz: Egon ist eben eher ein Deutscher, ich eher ein Österreicher. Meine ganze Familie kommt Jahrhunderte zurück aus Böhmen. Er ist, das habe ich ihm im Spaß - aber wirklich im Spaß - auch schon so gesagt, ein "Nationalist", während ich aus der Vielvölkertradition der Donaumonarchie komme. Ebenso verhält es sich mit Brandt. Wenn ich den Satz "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört" von jemand anderem als von dem von mir so bewunderten Willy Brandt gehört hätte, hätte ich ihn für organologischen Unsinn gehalten.

Sprechen Sie nicht ständig gegen einen "nationalen" deutschen Konsens, den es zwar in Ihrer Generation noch gegeben hat, aber nicht mehr in der gegenwärtigen - die heutige Jugend wächst doch weitgehend nationsvergessen auf! Die Wiedervereinigung zum Beispiel war kein Ergebnis eines "heißen Sehnens" der Mehrheit der deutschen Jugend im Westen, sondern mehr oder weniger ein historischer Zufall, den man sich eben hat gefallen lassen.

Glotz: Das stimmt, die Wiedervereinigung ist nicht der deutschen Politik zu verdanken, sondern ist eine Konsequenz des Zusammenbruchs des Kommunismus.

Egon Bahr sagte im JF-Gespräch außerdem: "Ich kenne keine deutsche Zeitung, die die Erinnerung an den 20. Juli so leidenschaftlich engagiert, so ernst und so ausführlich behandelt hat wie die JUNGE FREIHEIT". Hat die Kleinmütigkeit, mit der die Deutschen heute die Weiße Rose oder den 20. Juli behandeln, nicht vor allem damit zu tun, daß sie den Widerstand gegen Hitler zwar akzeptieren, sich aber nicht mit ihnen identifizieren, weil ihnen die dazu nötige "Portion" nationale Identität fehlt?

Glotz: Ihre Voraussetzung stimmt schon nicht: Der 20. Juli und die Weiße Rose werden heute hochoffiziell geehrt. Natürlich gibt es ab und zu auch mal einen linken Historiker, der darauf hinweist, wie autoritär einige der Widerständler waren. Aber das sind nichts weiter als historische Randbemerkungen. Und daß jedem Sozialdemokraten der Widerstand der adeligen deutschen Offiziere lieber war als die proletarischen Massen der SA, daran besteht doch kein Zweifel!

Dennoch: 20. Juli und Weiße Rose sind nicht in unserem Volk angekommen.

Glotz: Ich bitte Sie, was verlangen Sie denn?

Daß Weiße Rose und 20. Juli von den Deutschen geliebt werden!

Glotz: Ich habe großen Respekt vor dem Mut der Geschwister Scholl, aber ich habe doch Revolutionäre lieber, die ein bißchen strategischer mit ihrem eigenen Leben und dem anderer Menschen umgehen. Im habe sowieso ein Problem da-mit, historische Figuren und Ereignisse zu "lieben". Lieben tue ich - wie Gustav Heinemann - meine Frau und mein Kind.

 

Prof. Dr. Peter Glotz der ehemalige Bundesgeschäftsführer der SPD (1981 bis 1987) gilt vielen als der Vordenker der Partei. Zunächst war der ehemalige bayerische Landtagsabgeordnete Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (1974 bis 1977), danach Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin (1977 bis 1981). Von 1983 bis 1996 gehörte er dem Deutschen Bundestag an. Glotz wurde 1939 in Eger/Böhmen als Sohn eines deutschen Vaters und einer tschechischen Mutter geboren. 2000 gründete er zusammen mit der CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach die Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" und veröffentlichte 2003 sein Buch "Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück" (Ullstein). Heute lehrt der Kommunikationswissenschaftler als Gastprofessor an der Universität St. Gallen in der Schweiz.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Der Weg der Sozialdemokratie" (Molden, 1975), "Manifest für eine neue europäische Linke" (Siedler, 1985), "Die deutsche Rechte" (DVA, 1989), "Der Irrweg des Nationalstaates" (DVA, 1990), "Die Linke nach dem Sieg des Westens" (DVA, 1992)

Zentrum gegen Vertreibungen: Friedrichstraße 35/V, 65185 Wiesbaden, Internet: www.z-g-v.de  

Fotos:  JF-Chefredakteur Dieter Stein im Gespräch mit Peter Glotz in den Redaktionsräumen der Neuen Gesellschaft-Frankfurter Hefte im Gebäude der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin

 

Lesen Sie auch das Exklusiv-Interview der JUNGEN FREIHEIT mit Egon Bahr:
"Wir müssen lernen, wieder eine normale Nation zu sein"
Egon Bahr über Deutschland fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall, die "Flucht" der Deutschen nach Europa und die notwendige Rückkehr zum Nationalstaat


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