© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/05 21. Januar 2005

Der Sterne ruhelose Blässe
Dem Dichterleben abgeneigt: Zum hundertsten Geburtstag des heute vergessenen Lyrikers Jesse Thoor
Werner Olles

Mit keinem einzigen Wort erwähnen ihn die gängigen Literaturlexika, dabei war er ein Dichter, der "Verse von einzigartiger Bildkraft" (Hans J. Schütz) hinterlassen hat. Über seine Sonette schrieb Alfred Neumann: "Sie haben mir den stärksten Eindruck gemacht!" Ähnlich begeistert äußerten sich Franz Werfel und Thomas Mann, und dies obwohl Jesse Thoor bis dahin noch nichts veröffentlicht hatte und es auch im späteren Leben nur auf eine einzige Buchpublikation brachte. Denn eigentlich wollte dieser Nachfahre von Villon und Rimbaud gar kein Lyriker sein, weil ihm jegliche Neigung zum Leben eines Dichters fehlte. Thoor interessierte sich kaum für den Literaturbetrieb der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, vor allem verabscheute er es, sich bei Verlegern oder Kritikern einzuschmeicheln. Sein schmales Gesamtwerk wurde daher erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Jesse Thoor wurde als Peter Karl Höfler am 23. Januar 1905 in Berlin geboren. Eigentlich stammte die Familie aus der bäuerlich-katholischen Welt des Mühlviertels in der Steiermark. Doch in der Metropole Berlin kam Höfler schon bald mit dem Arbeitermilieu in Berührung, und diese Konfrontation mit Elend und Armut wurde schließlich bestimmend für ihn.

Er machte zunächst eine Ausbildung als Zahntechniker und wechselte dann zu einem Feilenhauermeister. "Auf der Walz" reiste er bis nach Italien und Spanien, ließ sich in Rotterdam nieder und heuerte als Heizer auf einem Küstendampfer an.

Zurück in Berlin begann er in anarchistischen und kommunistischen Kreisen zu verkehren, wurde Mitglied der KPD und freundete sich mit den Schriftstellern Theodor Plievier, Joachim Ringelnatz und Erich Mühsam an. Höfler, der bereits während seiner Lehrjahre mit dem Schreiben angefangen hatte, war gleichwohl alles andere als ein entrückter Intellektueller, und bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der SA fand man ihn immer ganz vorne.

Er nannte sich nach Jesaja und dem Donnergott

1932 verstarb seine Mutter, sein Vater, ein Tischler, wurde arbeitslos, und Höfler erlebte an dessen Beispiel, wie ein stolzer Handwerker über Nacht fast zum Lumpenproletarier degradiert wurde. Da die Nationalsozialisten ihn wegen seiner politischen Aktivitäten suchten, ging er nach Österreich und verbrachte die nächsten Jahre bei einer Tante in Wien. Er arbeitete als Bildhauer oder Silberschmied und trug im Rundfunk und vor Arbeiterversammlungen seine Gedichte vor.

Nach dem Anschluß floh er nach Brünn, während gleichzeitig seine innere Distanz zur KPD wuchs. So schrieb er in einem Gedicht: "Von meinen ärgsten Feinden nenne ich nur drei:- / Das sind die Fabrikanten, und das sind die Pfaffen der Partei." Von nun an nannte er sich Jesse Thoor, nach dem Propheten Jesaja und dem germanischen Donnergott Donar, die er als Verkünder eines Friedensreiches und als starken Verteidiger der Menschen gegen die Fürsten der Dunkelheit bewunderte.

Ende 1938 erhielt er die mit einem Stipendium verbundene Einreiseerlaubnis nach London. Seine Sonette wurden in der Exilzeitschrift Maß und Wert gedruckt, ihm selbst fällt das Schreiben jedoch zunehmend schwerer. Er machte sich Vorwürfe, weil er so wenig schreibt, doch ist ihm das "zu wenige" schon zuviel. Seine früheren KPD-Genossen denunzierten ihn inzwischen als verkappten Nationalsozialisten, und er wird auf der Insel Man interniert.

Erst nachdem der Erzbischof von Canterbury sich für ihn einsetzt, läßt man ihn wieder frei, und er arbeitet nun bis zu seinem Tod bei einem Londoner Goldschmied. In dieser Zeit wird aus dem ohnehin introvertierten und scheuen Thoor ein gänzlich unzugänglicher Mensch, der in den Bann einer mystischen Weltanschauung gerät. Seine neuen Lehrer heißen jetzt Angelus Silesius und Meister Eckhart.

In seinen Gedichten beschwört er nun eine mystisch geprägte bäuerliche Gemeinschaft, die sich von der modernen Welt abkehrt. Er will eine neue Ordnung schaffen, die auf Tradition, Religion und Heimat aufbaut. So schreibt er in einem Sonett: "Es leben in meiner Heimat viele edle Handwerker und heilige Bauern. / Der eine zeigt uns einen Weg, der andere faltet unsere Hände. / Daß wir alle ein Auge werden, daß wir alle ein Mund werden."

Thoors Stimmung wechselt zwischen heiterer Gelassenheit und mißtrauischer Ablehnung seiner Umgebung. Zunehmend belastet ihn jetzt auch die "Unfähigkeit, seine Gedanken auszudrücken" (Schütz). Er stellt schließlich sogar jegliche Korrespondenz ein und geht nicht einmal mehr ans Telefon. Wie es um ihn bestellt ist, kann man in dem Gedicht mit dem bezeichnenden Titel "Der verlorene Sohn" lesen: "Und falle ich, so ist es wenig nicht, was mit mir fällt. // Der Sonne Herrlichkeit und Pracht, der Sterne ruhelose Blässe, / ich habe sie in mir verborgen - und in meiner Brust verscharrt, / wie Vögel, die erschrocken sind und steif von allzu weiter Fahrt. // Nun ruhen sie als Schattenriß auf meiner Fresse. / Zur Schande dieser Welt, die mich verstieß und geisterhaft genarrt. / Bis Fluch und Lachen mich umfängt und beispiellos erstarrt."

Im Frühjahr 1950, zwei Jahre nach der kaum beachteten Veröffentlichung seiner "Sonette", besucht er zum ersten Mal seit seiner Emigration 1933 Deutschland. Bei einem neuerlichen Besuch in seiner alten Heimat überfordert eine Bergtour in Osttirol den gerade von einer schweren Herzthrombose Genesenen derart, daß er ins Spital eingeliefert werden muß. Am 15. August 1952 stirbt Jesse Thoor in Lienz an den Folgen seiner Herzkrankheit.


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