© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/05 21. Januar 2005

Bettler, Millionäre und Lenin-Tassen
Rußland I: Eine Reise nach Wolgograd und Moskau offenbart ein riesiges Land der unvorstellbaren Gegensätze / Neue Einkaufszentren und orthodoxe Kirchen
Matthias Bath

Mein erster Eindruck von Rußland ist eine unüberschaubare Menschenmenge in der Flughafenhalle vor den Einreiseschaltern. Es folgen 60 Minuten in der Warteschlange vor der Paßkontrolle. So kommen wir erst 15 Minuten vor der planmäßigen Abflugzeit unseres Anschlußfluges nach Wolgograd auf dem Inlandsterminal an. Hier erfahren wir, daß unser Weiterflug um mehr als fünf Stunden auf den späten Abend verschoben ist. Nun heißt es warten.

Um 1.15 Uhr landen wir schließlich in Gumrak, dem verlassen wirkenden Flughafen Wolgograds. Wir werden durch ein kleines Tor neben der dunklen Empfangshalle herausgelassen und warten auf einem Parkplatz fast eine Stunde auf unser Gepäck. Dann erscheint ein Kleinlastwagen mit unseren Sachen. Inzwischen ist es 2.15 Uhr. Busse oder offizielle Taxen sind nicht in Sicht. Schwarztaxifahrer bieten an, uns für hundert Dollar nach Wolgograd zu fahren. Hundert Dollar hat keiner von uns, jedenfalls nicht für diesen Zweck. Nach langen Verhandlungen einigen wir uns auf zehn Euro pro Person. Gegen 3.15 Uhr treffen wir endlich im Hotel ein.

Wolgograd hat 1,2 Millionen Einwohner und dehnt sich in Nord-Südrichtung über 75 Kilometer entlang der Wolga aus. Die Entfernungen sind enorm. Allerdings stellt die Stadt kein geschlossenes Siedlungsgebiet dar, sondern besteht aus der Innenstadt und verschiedenen Arbeitersiedlungen. Dazwischen befinden sich große Industrieanlagen, Brachflächen und kleinere Siedlungen dörflichen oder vorstädtischen Charakters. Wichtige Industrien sind auch heute noch die Aluminiumherstellung und die Erdölverarbeitung. Dagegen haben Maschinenbau und Traktorenproduktion seit dem Ende der Sowjetwirtschaft erheblich an Bedeutung verloren. Der Wolga-Don-Kanal, der Wolgograd mit dem Schwarzen Meer und über weitere innerrussische Wasserstraßen mit der Ostsee verbindet, wird derzeit von nur wenigen Schiffen genutzt.

Die Stadt wirkt trotz ihrer Einwohnerzahl und des durchaus regen Straßenverkehrs etwas provinziell. Es gibt kaum Tourismus. Und die Stadt bietet, abgesehen von der Wolga und den Gedenkstätten an die Schlacht von Stalingrad, allerdings auch kaum etwas. Es ist nur im Hauptpostamt möglich, Ansichtskarten in Einzelexemplaren zu kaufen. Unser achtstöckiges Hotel hat einen in diesem Jahr neu eröffneten Frühstücksraum mit gerade einmal zehn Tischen zu je vier Plätzen.

Die Menschen in Wolgograd sind nicht reich. Ein Lehrer verdient nur 2.000 Rubel (58 Euro) im Monat. Die Miete einer Zweizimmerwohnung beträgt aber bereits 1.000 Rubel. Viele Russen haben daher Zweit- oder sogar Drittjobs, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Die Alten verkaufen die oft ärmlich wirkenden Erträge ihrer Gärten, um ihre Renten aufzubessern. Wer keinen Garten hat, muß unter Umständen sogar auf der Straße betteln. In den Kaufhäusern und Einkaufszentren gibt es viele westliche Erzeugnisse zu Preisen, die in unseren Augen günstig erscheinen, aber für die einkommensschwachen Einheimischen kaum erschwinglich sind.

Für Ausländer ist es schwer, sich zu informieren

Bei Unterhaltungen mit Einheimischen kommt angesichts des Terroranschlages von Beslan das Gespräch schnell auf die Frage des Terrorismus, dem die Russen eine vorrangig militärische Bedeutung zumessen. Unsere Vorstellung, den Terrorismus als eine nachrichtendienstliche und polizeiliche Herausforderung anzusehen, stößt auf Verwunderung. Ein mitgebrachtes Spiegel Special-Heft zum Thema Terrorismus löst Aufsehen aus. Die darin enthaltenen Informationen sind für Russen weitgehend unbekannt. Wir werden gefragt, woher der Spiegel denn alle diese Informationen habe. Ausländische Zeitungen haben wir in Wolgograd nicht gesehen.

Auch wenn Russisch eine Sprache ist, die vom Tempo und der Betonung her ähnlich wie das Deutsche gesprochen wird und schnell eine Verständigung auf Einfachstniveau zuläßt, ist es für Ausländer ohne gute Sprachkenntnis kaum möglich, sich in Rußland über das Tagesgeschehen zu informieren. So erfahren wir vor Ort weniger über die politischen Ereignisse in Rußland als nach unserer Rückkehr nach Deutschland aus der hiesigen Presse. Immerhin wird uns am 11. September geraten, das Stadtzentrum und die Anlegestelle an der Wolga zu meiden. Dort finde ein Pop-Konzert statt und man erwarte viele junge Menschen. Es gebe eine Terrorwarnung für Südrußland und Wolgograd. Es sei nicht auszuschließen, daß gerade das Konzert zum Ziel eines Anschlages werden könne. Natürlich sind wir am Nachmittag im Zentrum und an der Anlegestelle. Bis auf eine deutlich verstärkte Polizeipräsenz mit Fußstreifen, Fahrzeugen und berittenen Polizisten ist alles wie sonst auch.

Am 12./13. September fahren wir mit der Eisenbahn von Wolgograd nach Moskau. Für die 930 Kilometer lange Strecke benötigt der Zug 19 Stunden. Der Fahrpreis 2. Klasse beträgt 1.540 Rubel (45 Euro). Eine Fahrt 3. Klasse (ohne Schlafmöglichkeit) hätte 840 Rubel (25 Euro) gekostet. Unser Abteil ist sehr geräumig, so daß sich unsere Fahrt recht komfortabel gestaltet. Auf dem Tisch im Abteil steht ein Kaffeeservice mit Kanne. Von einem Boiler auf dem Gang können wir heißes Wasser für Kaffee und Tee holen. Der Wagonschaffner versorgt uns mit Mineralwasser, einem Frühstückspaket und Bettwäsche.

In Moskau wohnen wir im Hotel "Ukraine", einem der sieben Anfang der fünfziger Jahre im Zuckerbäckerstil errichteten Turmhäuser Moskaus. Das Hotel entspricht auch im Inneren dem prunkvollen Repräsentationsstil der Stalinzeit. Moskau mit seinen zehn Millionen Einwohnern ist eine Metropole, die Berlin in den Schatten stellt. Kreml, Roter Platz und das Kaufhaus GUM sind sehr beeindruckend. Das gleiche gilt auch für die vielen alten und neuen Kirchen. Im GUM sind Geschäfte nahezu aller westlichen Markenprodukte vertreten. Allerdings gibt es nur wenige Kunden, weil der russische Normalverbraucher hier nur schauen, aber nicht kaufen kann.

Moskau empfiehlt sich all jenen als Reiseziel, die den siegreichen Neoliberalismus in der Praxis studieren möchte. Es gibt zwar billige Krankenversicherungen, aber alle medizinischen Leistungen müssen durch teilweise sehr erhebliche private Zusatzzahlungen finanziert werden. Die Einkommensunterschiede sind beträchtlich. Es gibt extrem reiche Geschäftsleute. Auf der anderen Seite leben Angestellte, Lehrer und Ärzte an der Armutsgrenze, Rentner noch darunter. Für ein gutes, aber keineswegs luxuriöses Abendessen zu zweit im neuen Restaurant "Café del Sol" zahlen wir fast das Monatsgehalt eines Lehrers. Vor dem Lokal steht eine alte Frau und bettelte. Die Geschäfte sind bis Mitternacht geöffnet - an sieben Tagen in der Woche. Im Laden des Museums für die moderne Geschichte Rußlands werden nicht etwa Ansichtskarten, Replika oder Souvenirs verkauft, sondern Teile des Magazinbestandes und der wissenschaftlichen Bibliothek des Museums. An Stelle der Anfang 2004 abgebrannten klassizistischen Manege - eines historischen Ausstellungsgebäudes im Stadtzentrum - entsteht numehr der Neubau eines Einkaufszentrums für Bekleidung.

Terrorgefahr läßt das Alltagsleben unberührt

Die Lebenshaltungskosten in Moskau sind auch für den Normalverdiener deutlich höher als in Wolgograd. So kostet die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hier zehn Rubel und mit privaten Linien-Taxis 15 Rubel. Die Preise in den normalen Gaststätten entsprechen Berliner Verhältnissen.

Vom Gedankengut der Sowjetunion ist in Moskau kaum etwas zu finden. Zwar sind Lenin und sogar Stalin überall gegenwärtig, aber das hat mehr mit Geschichte als mit Politik oder Ideologie zu tun. Die beiden sind nach dem Ende der Sowjetunion ganz einfach in die russische Geschichte eingegliedert worden wie Peter der Große oder Iwan der Schreckliche. Sie werden nun auf ganz kapitalistische Weise wie Pop-lkonen vermarktet. Eines Tages werden ihnen Gorbatschow und Jelzin und vielleicht auch Putin auf diesem Wege folgen. Auch von diesen dreien kann man Poster, Sticker, T-Shirts, Tassen und mehr kaufen. Statt kommunistischer Ideologie scheint das Christentum in Rußland sehr im Kommen zu sein. Nirgendwo habe ich so viele neue Kirchen oder auch Kirchenbaustellen gesehen wie hier. Auch in Moskau sind mit der Christi-Erlöser-Kathedrale und dem Auferstehungstor mit der Kapelle der Gottesmutter von Iberien in den neunziger Jahren Sakralbauten wiedererrichtet worden, die Anfang der dreißiger Jahre abgerissen worden waren.

Die Terror-Gefahr läßt das Alltagsleben in Moskau scheinbar unberührt. Nur die starke Polizeipräsenz in den Eingangsbereichen aller Metrostationen ist unverkennbar. Die Moskauer U-Bahn, die für sich schon eine Sehenswürdigkeit ist, befördert täglich neun Millionen Fahrgäste - ein "weiches Ziel" für Attentäter. So kontrolliert die Polizei an den Eingängen auch vorrangig Personen südländischen Aussehens. An der Metrostation Rizhskaya im Nordosten der Stadt geriet am 1. September eine tschetschenische Sprengstoffattentäterin in eine derartige Polizeikontrolle und zündete ihre mitgeführte Bombe. An der Umsteigestation Pushkinskaya im Stadtzentrum passieren wir mehrfach täglich eine Gedenkwand, die an den Anschlag im August 2000 erinnert. Aus der Moskauer Deutschen Zeitung erfährt man, daß wegen der Terrorgefahr im September 2004 ein Drittel der Rußland-Reisen von Ausländern storniert wurde. Rußland ist ein Land voller Gegensätze, sozial, mental, wirtschaftlich, politisch und geographisch. Gute Beziehungen zu diesem Giganten liegen im elementaren Interesse Deutschlands.


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