© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/53 04 17./24. Dezember 2004

Der antike Renaissancemann von heute
Mythen und Idole: Oliver Stones Film "Alexander" will Leben und Lieben des Kriegsherrn psychologisch erklären
Jens Knorr

Großer Alexander, / A*** auseinander, / A*** wieder zu, / und raus bist Du!" Der Abzählreim war in (Ost-)Berliner Kindergärten der 1960er Jahre geläufig, sein Sinngehalt hoffentlich nicht. Es macht weniger erstaunen, wieviel "verbotenes" Wissen über Sexualität Kindermund kundtut, sondern vielmehr, wie lange sich kollektive Erinnerung im Unbewußten hält und welche Wege sie sich sucht, von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Wer nun aber glaubt, es täte nichts zur Sache, was besungener Feldherr außerhalb der Dienstzeit tat, der irrt, weil sich im Falle Alexander von Makedoniens Pflicht und Neigung so einfach nicht voneinander scheiden lassen. Die 25 griechischen Anwälte jedoch, die in den USA Klage einreichten und wieder zurückzogen, weil Regisseur Oliver Stone in seinem Film den großen Alexander als Bisexuellen darstelle, wofür es keine historischen Zeugnisse gäbe, irren gleich mehrfach.

Alexander hätte wohl kaum verstanden, was denn mit Homo- und Bisexualität überhaupt gemeint sei, was mit griechischer Liebe gemeint war, dagegen schon. Für jene also kann es gar keine Zeugnisse geben, für diese spezifische Form der Homosexualität aber sehr wohl. Wir haben sie - nach Ernest Borneman - nicht als "sexuelle Abweichung" im Sinne der Individualpsychologie zu erkennen, sondern als ein soziologisches Phänomen, mehr noch: als ein Klassenphänomen, das im hellenischen Griechenland den Zugang zu führenden Positionen im Staatswesen, der Wirtschaft, der Philosophie und der Künste regelte.

Zur Erinnerung: Mit Alexander dem Großen begann die Epoche des Hellenismus, in deren Verlauf griechisches Kulturgut andere Kulturen durchdrang und orientalische Kulturelemente in den europäischen, insbesondere den griechischen Kulturkreis einsickerten. Alexander selbst vereinigt einige Aspekte ostwestlicher Verknüpfung von Sitten, Bräuchen und Kulturen. Als Grieche erzogen, Aristoteles war sein Lehrer, liebte Alexander neben der Ilias seinen Jugendfreund Hephaistion. Ob die politisch motivierten Ehen mit Roxane und Stateira jemals vollzogen worden sind, bleibt zweifelhaft. Aus der eigentümlichen Beziehung zu der Karerkönigin Ada, von der er sich adoptieren ließ, schließt Borneman auf inzestuöse Neigungen wie eine ausgesprochene Mutterbindung. Kurz nach dem Tode Hephaistions, der ihn überallhin als Feldherr begleitet hatte, stirbt Alexander an verschleppter Malaria.

Oliver Stone läßt keinen Zweifel daran, daß Olympias (Angelina Jolie) den Mord an Philipp von Makedonien (Val Kilmer) in Auftrag gegeben hat, um der Karriere ihres Sohnes, den sie überleben wird, den entscheidenden Schub zu versetzen. Der Regisseur läßt ihre ödipale Beziehung breit ausspielen, doch weil der Film Alexanders Leben und Lieben allein psychologisch zu erklären sucht, anstatt den Widersprüchen seines Charakters in seiner Welt nachzuspüren, erscheint die Figur seltsam blaß und eindimensional. Der Achill und Herakles in einer Person, der neue Dionysos, der politische Visionär und wahnwitzige Mörder bleibt im Spiel von Colin Farrell bloße Behauptung. Überhaupt scheitert der Film an Schauspielern, die sich ihre Figuren restlos einverleiben, so daß diese gar nicht mehr als mythische wahrgenommen werden können.

Zu diesem Eindruck trägt die katastrophale deutsche Synchronfassung das ihre bei. Während sich die Dialekte und Sprachen des makedonischen Großreichs in verschiedene Dialekte übersetzen ließen, die auf den britischen Inseln gesprochen werden, kann mit deutschen Dialekten so nicht verfahren werden. Wäre eine Synchronisierung unterblieben, so wäre dem Kinogänger wenigstens ein alles nivellierendes Fernsehdeutsch erspart geblieben.

Es versteht sich von selbst, daß Oliver Stone sein filmisches Handwerk versteht wie nur wenige neben ihm. Jedes Detail der Kostüme, Requisiten, Bauten, Schlachtordnungen will er historisch belegt wissen. Schauspielern und Statisten ließ er militärisches Verhalten antrainieren, als müßten Alexanders Schlachten bei Gaugamela und am Hydaspes noch einmal geschlagen werden. Doch nicht nach historistischer Meiningerei stand dem Regisseur der Sinn, als er mit allen Mitteln der Kunst und des Budgets die Welt Alexanders nachzubauen und diesen selbst in die Gegenwart zu zwingen suchte.

Alexanders Krieg ist Oliver Stones Krieg, ein Krieg um Gegenwelt und Gegenbild. Mit seinen Phalanxen tritt Stone zur Verteidigung einer Weltordnung gegen alle Weltordnungskrieger an, einer Weltkultur gegen alle Kulturkrieger, eines Weltethos gegen alle Seelenbarbaren und nicht zuletzt zur Verteidigung aller vorkommenden Liebe gegen den einen verkommenen Puritanismus. In Stones Film scheint Alexander geradewegs einer Zeit entstiefelt, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit: der europäischen Renaissance.

"Am einsamsten sind wir, wenn wir von Mythen umgeben sind", sagt Alexander. Einen Mythos kann man nicht leben, man kann ihn aber erzählen. Den erzählt Ptolemaios, Alexanders Statthalter von Alexandria (Anthony Hopkins), lange nach dem Tod seines Kriegsherrn. Und er erzählt zunehmend zweifelnd und verzweifelnd, da auch ihm die Gestalt Alexanders um so mehr entgleitet, desto mehr er ihrer geheimen Antriebe habhaft zu werden sucht.

"Der Osten hat die Angewohnheit, sowohl Männer als auch ihre Träume zu zerstören." Von einer absoluten Grenze, die es zu überwinden gelte, spricht der Kolonisator im Zottelmantel, als er von verschneitem Hochgebirgsgipfel aus gen Osten blickt, bis ans Ende der bekannten Welt oder darüber hinaus. Als ihm der Adler des Zeus, sein Adler, immer seltener erscheint, als seine Phalanxen, diese Panzer der Antike, im indischen Dschungel auseinandergesprengt werden, als sein schwarzer Hengst Bucephalos die Angst vor dem eigenen Schatten überkommt - da muß Alexander ahnen, daß er sich in einen asymmetrischen Krieg verrannt hat, den er nicht gewinnen, weil er ihn nicht verstehen kann.

Gewiß ist der symbolträchtigen Sequenz, in der sich Alexanders Pferd vor dem indischen Kriegselefanten aufbäumt, der unbedingte Wille anzusehen, in die Filmgeschichte einzugehen. Sie ist der Höhepunkt dieses an Höhe- wie Tiefpunkten überreichen Films.

Foto: Alexander der Große (Colin Farrell): In die Gegenwart gezwungen


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