© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/53 04 17./24. Dezember 2004

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Kollektivismus
Karl Heinzen

Wer von Patriotismus redet, will, dies lehrt die historische Erfahrung, in der Regel von Problemen ablenken. Jene der CDU, die diesen Begriff für sich reklamieren zu müssen meint, liegen auf der Hand. Sie hat durch ihre eigentlich von niemandem verlangten Vorstöße auf verschiedenen Politikgebieten den Wählern die Erkenntnis vermittelt, daß eine Opposition nicht notwendigerweise die Alternative zu einer Regierung darstellt. Sofern sie hier Kurs hält, wird Gerhard Schröder diesmal möglicherweise ohne eine neuerliche Flutkatastrophe oder fortgesetzte Nadelstiche gegen die USA auskommen, um 2006 wiederum die Nase vorn zu haben.

Der Versuch, durch ein Thema, das kein Konzept, sondern lediglich ein Bekenntnis verlangt, die Flucht nach vorne an­zutreten, war daher von Anfang an durchsichtig und ist zu Recht gescheitert. Anstatt eine "Debatte" über die vermeintliche Notwendigkeit eines bundesrepublikanischen Patriotismus anzustoßen, hat die Union vielmehr allenthalben Kopfschütteln und entschiedene Widerworte geerntet. Diese Reaktion zeigt, daß weite Teile der Öffentlichkeit der Krise unseres Staates zum Trotz vernünftig genug sind, die Büchse der Pandora nicht zu öffnen und einer Umwertung jener Werte, die unsere Grundordnung ausmachen, zu wehren.

Auch wenn so manchem heute Worte wie "Gemeinsinn" und "Gemeinwohl" wieder leicht über die Lippen gehen, dürfen wir nämlich eines nicht vergessen: Unser Grundgesetz stellt den Einzelnen in den Mittelpunkt und nicht ein wie auch immer definiertes Kollektiv. In dieser Entscheidung der Verfassungsväter ist nicht allein die Abkehr von einer unheilvollen Vergangenheit zu sehen, in der man eine "Volksgemeinschaft" mittels einer vorgeblich gemeinsamen Abstammung konstruierte. Die durch sie begründete Werteordnung des Grundgesetzes erteilt auch allen anderen Kollektivismen eine entschiedene Absage. Dieses Verdikt schließt selbstverständlich eine solche Gemeinschaftsideologie mit ein, die ganz harmlos als Verfassungspatriotismus ausgegeben wird.

Natürlich ist es legitim, darüber froh zu sein, daß man in einem Land lebt, in dem das Grundgesetz gilt. Gerade wenn man es mit der Liebe zur Verfassung ernst meint, darf man sie aber nicht zur Identitätsstiftung mißbrauchen. Man verfälscht und beschädigt sie, wenn man von den Individuen, deren Würde, Freiheit und Selbstbestimmung sie zum Ausdruck bringt, verlangt, daß sie sich sozusagen willenlos unter ihrem Banner zu versammeln haben. Auch gibt es für die Menschen in Deutschland keinen Grund, Stolz auf ihr Grundgesetz zu empfinden. Stolz kann man schließlich nur auf etwas sein, was man sich selbst erarbeitet und damit verdient hat. Das Grundgesetz haben sich "die Deutschen" aber nicht selbst gegeben. Es ist ihnen vielmehr in den Schoß gefallen. Nach allem, was in ihrem Namen geschehen ist, dürfen sie für diese Gnade der Geschichte danken. Sie sollten jedoch von jeglichem Übermut lassen.


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