© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/53 04 17./24. Dezember 2004

Der Tag X
Jetzt fällt die endgültige Entscheidung über den EU-Beitritt der Türkei
Bernd-Thomas Ramb

Die spontane Reaktion auf den Vorschlag, die Europäische Union um die Türkei zu erweitern, lautet in der Regel: "Das kann doch nur ein Witz sein!" Auch wenn diese Erklärungsvariante zu vertiefen wäre, das Beharren der Bundesregierung, Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei wohlwollend zu unterstützen, verlangt eine nüchterne Analyse, was an diesem Vorhaben vorteilhaft sein sollte. Zynische Kritiker der EU werden sofort antworten, mit einem Beitritt der Türkei platzt der Moloch Europäische Union noch schneller als ohnedies. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Regierungsparteien tatsächlich eine derartige Strategie im Hinterkopf haben. Zumindest ist das Ende der EU nicht das offizielle Hauptargument der Freunde eines Türkeibeitritts.

Müßig ist der Hinweis, die Beitrittsverhandlungen seien ergebnisoffen. Die politische Verlogenheit dieser Einschränkung ist seit der Freigabe der Abtreibung nach "ergebnisoffener" Beratung sattsam bekannt. Die Einschränkung "ergebnisoffen" wird dort wie hier in einen Ergebnisanspruch verwandelt. Im Gegensatz zur Abtreibungsgenehmigung wird zudem ein moralischer Anspruch auf ein befürwortendes Ergebnis erhoben. Das beschwichtigende Beiwort "ergebnisoffen" sollte also ehrlicherweise gestrichen werden. Wird die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen beschlossen, wird über kurz oder lang auch der Beitritt beschlossen. Es sei denn, vorher gäbe es die EU nicht mehr.

Diesbezüglich ist auch das naßforsche Auftreten des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan ob des Unionsvorschlags, eine "privilegierte Partnerschaft" zwischen der EU und der Türkei anzustreben, bezeichnend. Die Türken wollen alles oder nichts, und das Nichts würde sie tödlich beleidigen. Aufschlußreich ist zudem die Ablehnung der privilegierten Partnerschaft durch den deutschen Bundesaußenminister - mit der Begründung, dies würde "zu einem Abbruch der erfolgreichen Erneuerungen in der Türkei führen". Die Türkei reformiert also nur wegen des EU-Beitritts und nicht aus innerer Überzeugung und offensichtlicher Notwendigkeit. Joschka Fischers Argumentation offenbart, wie halbherzig, flüchtig und oberflächlich die türkischen Reformvorhaben ausfallen werden.

Außerdem werden sich die Türken ein Beispiel an der mittlerweile gewohnten EU-Mogelei nehmen. Wenn schon das kleine EU-Mitglied Griechenland, der Erzfeind der türkischen Geschichte, es bei den Zahlen nicht nur ungenau nimmt, sondern offensichtlich ungestraft betrügen darf, wie sollte so etwas der großen Türkei verwehrt werden. Die bis zum Beitritt von der Türkei geforderten Reformschritte werden daher möglicherweise den Beitritt etwas hinauszögern, ein ernsthaftes Hindernis dürften sie jedoch kaum darstellen. Notfalls wird ebenso ein Auge zugedrückt wie in den Fällen Griechenland, Italien, Portugal, ja sogar Deutschland und Frankreich mit ihren Defizitbetrügereien.

Der Preis, den die Europäer für den Beitritt der Türkei zu zahlen haben, ist weitgehend bekannt. Das mit Abstand ärmste Mitgliedsland wird horrende Ausgleichszahlungen einfordern. Als einwohnerstärkstes Land (die türkische Bevölkerung wird die deutsche in wenigen Jahren zahlenmäßig übertreffen) bedarf es nur der Unterstützung einiger anderer ebenso armer EU-Mitgliedsstaaten, um durch Mehrheitsbeschluß die Umverteilungsmaschinerie anzutreiben, bis die EU-Pro-Kopf-Einkommen aller Staaten auf unterem Niveau egalisiert sind. Die ungehemmte Völkerwanderung wird zudem vornehmlich von der Türkei nach Deutschland fließen, haben doch nahezu drei Millionen Türken in Deutschland eine heimische Umgebung schon vorbereitet. Spätestens dann ist der Zusammenbruch der deutschen Sozialsysteme endgültig besiegelt.

Unklarer sind dagegen die Vorteile, die durch den Beitritt der Türkei zur EU entstehen sollen. Die bessere Reformfähigkeit der Türken ist bereits in Frage gestellt. So ist auch die Hilfskrücke "privilegierte Partnerschaft" nicht begründbar. Entwicklungshilfe kann anders besser geleistet werden. Und warum ausgerechnet zugunsten der Türkei? Die Ukraine und Weißrußland sind auch reformbedürftig und Ländern wie Marokko und Algerien privilegierte Partnerschaften nur schwer verständlich auszuschlagen. Was wäre im übrigen, wenn dies tatsächlich so gelingen sollte, der Vorteil für Europa? Auf spätere wirtschaftliche Ausgleichzahlungen zu hoffen - frei nach dem Motto, wenn die Deutschen schon keine Kinder mehr bekommen, können sie ihre Rente von türkischen Beitragszahlern finanzieren lassen -, ist absurd.

Das gelegentlich vorgetragene Argument, mit einer Einverleibung der Türkei in die EU wäre die Befriedung des Nahen Ostens leichter, zeugt von einer erschreckenden Unkenntnis der Historie dieser Region. Schließlich haben die arabischen Länder lange unter der türkischen Knechtschaft gelitten. Daß die Türkei auch ein islamischer Staat ist, zählt da wenig. Im Gegenteil würde durch den Beitritt der USA-hörigen Türkei für die arabischen Länder Europa als ein geachteter Verbündeter und eine anerkannte Alternative zur US-amerikanischen Hegemonialmacht entfallen. Vielleicht ist aber gerade dieser Effekt von den Beitrittsbefürwortern gewünscht. Sie könnten sich damit als Hilfskräfte der USA bloßstellen, die seit langem die Europäische Union zu einer Aufnahme der Türkei drängen. Die Nato wäre dann noch effektiver die Aufpassermacht über die EU und die Kriegsfront gegen die arabischen Staaten wieder geschlossen.

Wie dem auch sei, andere mögliche Vorteile sind kaum sichtbar und alle nur mit Verrenkungen größer als die Nachteile zu werten. Als letzte Erklärung bleibt, den Beitritt der Türkei mit seinen langwierigen Aufnahmeverhandlungen als groß angelegtes politisches Ablenkungsmanöver zu verstehen. Abgelenkt wird damit auf europäischer Ebene von den noch bevorstehenden immensen Kosten der gerade vollzogenen Ost-Erweiterung der EU. Wer den Blick auf die Türkei lenkt, hofft darauf, daß die Probleme des Beitritts von Polen oder der Slowakei und demnächst von Bulgarien und Rumänien aus den Augen geraten. Innenpolitisch wird damit - zumindest vorübergehend - von den grauenvollen Fehlentwicklungen bei den deutschen Finanz- und Sozialsystemen abgelenkt.

Wer in Deutschland so eklatant bei der Einleitung der notwendigsten Reformschritte versagt und sich für die billigste Hinhaltetaktik bis zum nächsten Wahltag nicht zu schaden ist, dem ist auch außen- und europapolitisch alles zuzutrauen - sogar eine Aufnahme der Türkei in die EU.


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