© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

Glasfassaden, Slums und Ehrenmorde
Türkei: Im Land zwischen Bosporus und Kurdistan hat das westlich geprägte Gesicht das orientalisch-archaische Bild nur in den Innenstädten der Metropolen abgelöst
Curt-Torsten Weick

Wieviel Anatolien verträgt Europa?" fragte das Hamburger Abendblatt, und Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) gab kurz und knapp die passende Antwort: "Der Lebensstandard in Anatolien ist im Verhältnis zu Westeuropa, aber auch zu den neuen Beitrittsländern kategorisch niedriger. Die europäischen Diplomaten lassen sich täuschen, weil sie nur Istanbul, Izmir oder Ankara kennen. Sie kennen aber Anatolien nicht."

So stellt sich oft das Türkeibild vieler Europäer und speziell das der Deutschen dar. Letzteres ist vor allem durch den Urlaub in den Tourismus-Hochburgen an der türkischen Riviera geprägt und wurde von Kurzbesuchen der Hagia Sophia, der Blauen Moschee und des Großen Basars in Istanbul orientalisch untermalt. Gerät der Istanbul-Besucher dann auch noch in die westlich anmutende Innenstadt mit ihren hypermodernen Banken, gestylten Boutiquen und Cafés, in denen die großstädtischen Trendsetter ihren Latte Macchiato genießen, ist er vollends von der EU-Tauglichkeit der Türkei überzeugt.

Nichtsdestotrotz hat er vom wahren "Stambul" längst nicht alles gesehen. Die Bosporus-Metropole erscheint zwar auf den ersten Blick als die europäischste Stadt der Türkei. Doch wer das Zentrum verläßt, erkennt in Istanbul mit seinen geschätzten zehn bis fünfzehn Millionen Einwohnern den "eurasiatischen Moloch" (WDR), der nach Beitritt der Türkei zur Europäischen Union weit vor London und Paris mit Abstand die größte Stadt der EU wäre. Schnell gerät der Besucher in einen bizarren Mix aus monströsen Industrieanlagen und einem Konglomerat eiligst zusammengezimmerter Dorfhütten, den sogenannten "Gecekondus" (türkisch für: "über Nacht erbaut").

Vierzig Prozent der urbanen Bevölkerung wohnen in Slums

Diese "über Nacht gebauten" Viertel haben es in sich. Vor allem platzen sie aus allen Nähten. Suchten vor Jahr und Tag vor allem kurdische Flüchtlinge ihr Heil an der Peripherie der Großstadt, ist es heute die immense Landflucht aus dem agrarisch geprägten und wirtschaftlich unterentwickelten Osten und Südosten der Türkei, die jedwede gutgemeinte Infrastrukturverbesserung in den slumähnlichen Siedlungen ad absurdum führt.

Im März legte die Istanbuler Handelskammer ihre wenig ermutigenden Untersuchungsergebnisse zu den Gecekondu-Vierteln vor. Mittels Haushaltsbefragung in den Armutssiedlungen Istanbuls fand sie heraus, daß 75 Prozent des Haushaltseinkommens von Frauen erwirtschaftet wird. Außerdem gingen etwa die Hälfte der schulpflichtigen Kinder der Siedlungen Erwerbsarbeit nach. Der Anteil der Kinder, die aus wirtschaftlichen Gründen aus der Schule genommen werden, wurde mit 44 Prozent ermittelt. Demgegenüber wurde die Arbeitslosigkeit in den Gecekondus mit nur zwei Prozent angegeben. Nur 29 Prozent der befragten Haushalte erreichten ein Einkommen von über 180 Euro, und 75 Prozent der Befragten schätzten ein, daß sich ihre wirtschaftliche Lage negativ entwickle.

Die Zeichen stehen also in Richtung Anatolien statt in Richtung Europa. Vor allem, wenn man Schätzungen folgt, die davon ausgehen, daß die Bewohner der Gecekondus inzwischen mindestens vierzig Prozent der gesamten städtischen Bevölkerung der Türkei ausmachen. Kein Wunder also, daß die westlich orientieren "Stadt"-Türken deutlich in der Minderheit sind.

Ob Istanbul, Izmir oder Ankara - Anatolien ist überall. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Selbst im kurdischen Diyarbakr im Südosten der Türkei mit seinen offiziell zirka 589.000 (2003) Einwohnern gibt es schon seit einigen Jahren inoffizielle Schätzungen, die der Stadt, einschließlich ihrer Gecekondus, inzwischen mehr als eine Million oftmals entwurzelte und sozial schwache Einwohner zusprechen. Sogar in Ankara, der in Teilen hochmodernen Regierungs- und Diplomatenstadt im Zentrum Anatoliens, reichen die ungeplanten und wildwachsenden Siedlungen bis zum Horizont.

Doch warum an den Stadtrand weichen? Allein schon ein kurzer Besuch in der Altstadt Ankaras versetzt den Besucher in eine andere Welt. "Hier erlebt man noch die Atmosphäre einer anatolischen Stadt, orientalische Geschäftigkeit und farbenfrohe Lebendigkeit. Die Leute scheinen ein völlig anderes Leben zu führen, Frauen mit Kopftuch sind eher der Normalfall. Im Vergleich zu den Wohngegenden um die Botschaften fühlt man sich hier als westliche Frau schon beobachtet und sollte sich nicht zu 'sommerlich' kleiden", schreibt eine junge Rechtsreferendarin in der Zeitschrift Juristische Schulung.

Zwischen den auf westlich getrimmten Einkaufsmeilen in Istanbul und Ankara flanierenden und den in archaisch anmutenden Gebieten in Anatolien lebenden Frauen klaffen nämlich Welten. Obwohl mit der Atatürk'schen Einführung der Republik in den zwanziger Jahren die rechtliche Gleichstellung der Frau festgelegt wurde, liegt auch achtzig Jahre später vieles im argen. Nicht erst seit der umstrittenen Strafrechtsreform, die der Kriminalisierung von Ehebruch das Wort redete und fast zum Stolperstein bei den EU-Beitrittsbemühungen der Türkei geworden wäre, sind sich die Interessierten bewußt, daß es um die Stellung der Frauen in der Türkei weithin mehr schlecht als recht bestellt ist.

Westliche Frauengruppen sind entsetzt: Vor allem auf dem Land ist die Gleichstellung der Frau nicht durchgesetzt. Jede dritte Frau in der Türkei kann weder lesen noch schreiben. Um Achtung zu erlangen, müssen sie zahlreiche Kinder, vor allem aber Söhne gebären. Ihr Lebensweg ist genau vorgeschrieben. Entscheidungen werden für sie zuerst vom Vater und nach der Hochzeit vom Ehemann getroffen. Bei einigen Familien hat sie auch heute nicht einmal Einfluß auf die Wahl des Ehepartners. In Städten ist die Lage der Frauen nicht viel besser.

Auf dem Land gibt es keine Gleichstellung der Frau

"Verstöße gegen die geschlechtsspezifischen Normen", wie es westliche Frauenrechtlerinnen nennen, gibt es in der Türkei besonders im Südosten des Landes in nicht geringer Anzahl. Kein Wunder also, daß die Menschenrechtsorganisation amnesty international im Juni einen "dramatischen Anstieg" der "Ehrenmorde in den südöstlichen Landesteilen der Türkei" konstatierte und unter dem Titel "Chronik eines angekündigten Todes" das blutig-archaische Beispiel der 22jährigen Kurdin Güldünya Tören anführte.

Tören war von einem Cousin in ihrem Heimatdorf vergewaltigt und geschwängert worden - und damit eine Schande für die ganze Familie. Genauer gesagt, sie hatte als unverheiratete Frau die Traditionen und das Ehrgefühl der gesamten Familie verletzt und floh - ihren Tod, oder, im günstigsten Fall, die Zwangsheirat vor Augen - nach Istanbul.

Doch auch dort fand sie keine Ruhe, sondern wurde von ihren Eltern unter Druck gesetzt, eine Ehe mit dem Vater des ungeborenen Kindes einzugehen, der bereits mit ihrer Cousine verheiratet war. Güldünya weigerte sich und steigerte so vor allem den Unmut der Männer des Familienclans: Nach einem Monat kam ihr älterer Bruder nach Istanbul und forderte die Schwester auf, sich umzubringen. Nur so sei die Familienehre wiederherzustellen.

Die Schwangere flüchtete und suchte Hilfe bei der Polizei - ein fataler Irrtum, wie sich bald erwies. Denn wie in vielen ähnlichen Fällen benachrichtigten die Beamten sofort die Familie des Opfers. Ihr Onkel und ihr Bruder stritten auf der Wache ab, Güldünya jemals bedroht zu haben. Die junge Frau flehte die Polizisten an, sie nicht ihrer Familie auszuliefern. Schließlich wurde ein Kompromiß gefunden: Die bedrohte Frau zog zu einem pensionierten Geistlichen aus ihrem Dorf, der mittlerweile in Istanbul lebte.

Am 25. Februar dieses Jahres erschien ihr älterer Bruder in Istanbul und lockte sie aus dem Haus. Auf der Straße wartete jedoch der jüngere Bruder, der sofort auf sie schoß und sie schwer verwundete. Der Geistliche brachte die verletzte Frau in ein Krankenhaus und informierte den Onkel. Als die Polizei erschien und Güldünya Tören fragte, ob sie Anzeige erstatten wolle, lehnte sie dies ab - die Anwesenheit ihres Onkels schüchterte sie ein, ihre Angst vor der Familie war zu groß. Für die Beamten war der Fall damit erledigt, und auch der Geistliche ging nach Hause. Das Krankenhaus fühlte sich für den Vorfall nicht verantwortlich. So blieb nur der Onkel bei dem Opfer. In den frühen Morgenstunden verließ er unter einem Vorwand das Krankenzimmer. Kurz darauf drang einer der Brüder in das Zimmer ein und schoß die Wehrlose zweimal in den Kopf.

Güldünya Törens Schicksal ist bei weitem kein Einzelfall. Trotz einer hohen Dunkelziffer konnten im vergangenen Jahr Ehrenmorde an 32 Frauen fixiert werden. Hinzu kamen 41 Selbstmorde, deren Umstände nicht zu klären waren. Der Nahost-Experte Peter Scholl-Latour hatte vor zwei Jahren "Teilen" der Türkei das "Lebensniveau von Bangladesh" (Süddeutsche Zeitung; 7. Dezember 2002) attestiert. Nicht weit gefehlt. Wenn es um das Thema "Verteidigung der Ehre" geht, befand sich die Türkei bis dato in einem juristischen Boot mit Jordanien, Syrien, dem Libanon, Libyen, Algerien, Kuwait und eben Bangladesh. Alle diese Länder haben Klauseln zur "Verteidigung der Ehre" in ihren Gesetzbüchern und lassen bei Morden im Namen der Ehre die Täter oft mit milderen Strafen davonkommen.

Nur ist die Türkei eben nicht nur ein Land unter vielen. Man drängt nach Europa und zeigt sich reformbeflissen. Schnell hieß es, die Gesetze in punkto Ehrenmorde müßten geändert werden. Doch Reformen im Strafrecht hin und EU-Beflissenheit her, die Zentralregierung und auch ihre Gesetze sind fern. Vor allem wenn man sich die Situation der kurdischen Hauptstadt Hakkari und der gleichnamigen Provinz weit im Osten der Türkei vor Augen führt. Hier haben auch heute noch die türkischen Militärs das Sagen. Soziales Leben und herrschende Moral bestimmt eine feudale Gesellschaftsordnung, die im Südosten der Türkei über die Jahrhunderte kaum angetastet wurde.

Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer

Während die Blutrache, der Bildungsnotstand und die Vielehen - deren Zahl auf eine Million geschätzt wird - das gesellschaftliche Leben prägen, geben Baumwollfelder und Lehmhütten der Landschaft ihr Gesicht. Die Wege sind ungepflastert, und nicht nur wenn der Winter über sechs Monate über die Bergwelt hereinbricht, scheint die Dritte Welt hier näher als die Erste oder Zweite.

Trotz dieser mittelalterlich anmutende Idylle gibt die gesellschaftliche Gegenwart wenig Anlaß zur Freude. Es ist just einen Monat her, da hat die Universität Ankara eine eher beschämende Studie zum Thema Gewalt in der Ehe vorgelegt und konstatiert: "39 Prozent der Türkinnen akzeptieren Schläge ihres Mannes." Demnach sähen es fast vierzig Prozent der türkischen Frauen als das "Recht" ihres Ehemannes an, sie in bestimmten Fällen zu schlagen. Als berechtigte Gründe wurden genannt: "Verweigerung des Geschlechtsverkehrs, Vernachlässigung der Kinder, zu verschwenderisch sein, dem Ehemann zu widersprechen und Mahlzeiten anbrennen zu lassen." Der Prozentsatz der Frauen, die angeben, aus mindestens einem dieser Gründe von ihrem Mann geschlagen worden zu sein, ist im armen Osten der Türkei deutlich höher (49 Prozent) als im industrialisierten Westen (33 Prozent).

Die Türkei ist ein Land mit zwei Gesichtern: einerseits westlich orientiert, andererseits orientalisch-archaisch geprägt. In diesem Kontext verwundert es nicht, daß die Türkei auf der Liste der Länder mit der heterogensten Einkommensverteilung in der Spitzengruppe rangiert. Doch statt daß sich die Schere schließt, sinkt das reale Einkommen der Landbevölkerung zusehends. Dies wiederum löst neue Landfluchtwellen in die Metropolen aus, die Armenviertel wachsen an und mit ihnen die enormen Probleme in den Städten. Wobei wir wieder in den berühmt-berüchtigten "Gecekondus" angekommen wären.

Foto: Ältere Bewohner sitzen vor ihren Häusern in einem Elendsviertel bei Istanbul: Landfluchtwellen in die Metropolen wie in der Dritten Welt, Istanbuler Bankenviertel: Schnell von der EU-Tauglichkeit überzeugt


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