© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

Die Rechnung zahlt Berlin
Türkei I: Der EU-Beitritt des eurasischen Landes ist im geopolitischen Interesse der USA / Ausbau zum Bollwerk gegen den radikalen Islam
Alexander Griesbach

Im Zusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei ist immer wieder auch von US-Inter-essen und von der geostrategischen Bedeutung die Rede, die die Türkei für die USA habe. Diese Interessen haben seit dem Ende des Kalten Krieges dazu geführt, daß hinter den Kulissen seitens der USA ein erheblicher Druck auf die EU entfaltet wird, mit der Türkei endlich Gespräche über eine Aufnahme in die EU aufzunehmen. Diesem Druck scheint nun entsprochen zu werden, treten doch inzwischen die beiden wichtigsten Mitgliedsländer der EU, nämlich Deutschland und - mit Abstrichen - Frankreich, für eine schnelle Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein.

Daß die Mitgliedschaft der Türkei offenbar längst beschlossene Sache ist, das hat Bundeskanzler Gerhard Schröder nach einem Treffen mit Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac Anfang Dezember unmißverständlich klargestellt: "Es geht uns um ein Ziel, und das heißt Mitgliedschaft", sagte Schröder.

Die USA, so scheint es, stehen kurz vor dem Ziel ihrer Wünsche. Es soll an dieser Stelle aber nicht erörtert werden, welche Motive Chirac und Schröder leiten, sondern der Versuch unternommen werden, die Interessen der USA und, so wird man hinzufügen dürfen, die Interessen Israels im Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei transparenter zu machen.

Zunächst ist festzuhalten, daß die Türkei für die USA mit dem einsetzenden Kalten Krieg bald in den Blickpunkt rückte. Ihr wuchs nämlich schnell eine Schlüsselrolle an der südöstlichen Flanke der Nato zu. Die geographische Lage der Türkei ermöglichte dem Westen einmal, einen Ausgriff der Sowjetunion vom Schwarzen Meer in das Mittelmeer zu unterbinden. Zum anderen wurde Moskau gezwungen, größere Truppenkontingente in diesem Raum zu stationieren, um seine südöstliche Flanke zu sichern.

Geopolitischer Paradigmenwechsel

Den USA wurde ermöglicht, eine Reihe von Militär- und Kommunikationsbasen zu errichten, die nach dem Verlust der Basen im Iran im Jahre 1979 durch den Sturz des US-freundlichen Schah-Regimes erheblich an Bedeutung gewannen. Ungeachtet des Konfliktes der Türkei mit Griechenland, der lange Zeit ein schwelendes Problem innerhalb der Nato war, agierten die USA immer wieder als Lobbyist der Interessen der Türkei. Diesen Kurs dürften sie spätestens 1991 gerechtfertigt gesehen haben, als den türkischen Militärbasen eine Schlüsselrolle im Krieg gegen den Irak zufiel.

Aus Sicht der USA hat das Ende des Kalten Krieges zu einem geopolitischen Paradigmenwechsel geführt. Die Frontlinien verlaufen seitdem nicht mehr quer durch Europa, sondern befinden sich nun im Mittleren Osten. Entsprechend hat sich die geostrategische Lage der Türkei verändert. Diese ist seit 1989 von der Peripherie in das Zentrum US-amerikanischer Interessen in dieser Region gerückt. Die Türkei bleibt aus ihrer Sicht eine Schlüsselmacht im östlichen Mittelmeer, die überdies eine wichtige Rolle auf dem Balkan spielt.

Dies wird auch in einer Reihe von arabischen Staaten und vor allem in Israel so gesehen. Ziel der USA und auch Israels sei es, so schreiben z. B. die Politikwissenschaftler Geoffrey Kemp und Robert Harkavy in ihrem Buch "Strategic Geography and the Changing Middle East" (Washington 1997), daß die Türkei erneut zu einem Hauptkreuzungspunkt bzw. einer Art physischem Verbindungsstück zwischen Europa und dem Mittleren Osten wird.

Ob und inwieweit die Türkei in diese Rolle hineinwachsen kann, hängt aus Sicht dieser Autoren - die damit wohl auch die Auffassungen der Regierungen Clinton und Bush wiedergeben dürften - zwingend davon ab, ob die Türkei Mitglied der EU wird oder nicht. Nur im Falle einer Mitgliedschaft, so die beiden Politikwissenschaftler, werde die Türkei der Herausforderung des radikalen Islam eine passende Antwort erteilen können und ein säkularer und prowestlicher (und damit auch "proisraelischer") Staat bleiben. Es ist genau dieses Argument, mit dem inzwischen - aus welchen Gründen auch immer - auch die Bundesregierung, angeführt von Schröder und Fischer, hausieren geht.

Doch hiermit erschöpft sich das Interesse der USA an der Türkei keineswegs. Mindestens von ebensogroßer Bedeutung sind die Beziehungen der Türkei in den Kaukasus. Hier sind einmal deren Beziehungen zu Georgien und Aserbaidschan für die USA von Interesse, aber auch die ökonomisch immer enger werdenden Verbindungen nach Zentralasien, die sich beispielsweise in neuen Verkehrswegen und Seeverbindungen von der Türkei durch das Kaspische Meer manifestieren.

Mit Blick auf Zentralasien stellt eine demokratische und säkulare Türkei so etwas wie den Gegenentwurf zum islamischen Fundamentalismus dar. Die Bedeutung dieses Aspekts könnte, so Kemp und Harkavy, nicht überschätzt werden. Mit ihren europäischen Investoren und Beziehungen im Hintergrund eröffne die Türkei überdies den Zugriff auf die Märkte Zentralasiens.

Diese Optionen bleiben freilich nur dann realistisch, wenn die Türkei auf ihrem säkularen Pfad, den sie unter Präsident Atatürk seit 1923 beschritten hat, weitergeht. Ein revolutionärer Schwenk hin zu einem radikalislamischen, antiwestlichen Staat, wie er aus Sicht der USA etwa 1996 drohte, als dem islamistischen Premier Necmettin Erbakan und seiner Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP) kurze Zeit die Macht zufiel, würde eine Aufnahme der Türkei in die EU verunmöglichen.

Dieser Schwenk würde auch die Haltung der Türkei zu Israel und zum arabisch-israelischen Friedensprozeß sowie dessen Rolle in Zentralasien grundlegend verändern.

Eine Kurskorrektur derartigen Ausmaßes würde überdies unweigerlich zu Konflikten zwischen der Türkei und den USA und - so wird man hinzufügen müssen - Rußland führen. Deshalb kommt für die USA alles darauf an, daß die geopolitisch und ökonomisch so bedeutende Türkei berechenbar bleibt. Nur dann kann sie, wie seitens der USA erhofft, zu einem wichtigen Faktor für Stabilität und Frieden in der Region heranwachsen.

Meint: Nur dann kann sie in die ihr zugedachte Rolle als Drehscheibe zwischen Zentralasien, Europa und dem Mittleren Osten hineinwachsen. Wer die fällige Rechnung in Form von gewaltigen Finanztransfers und steigendem Migrationsdruck zu zahlen hat, ist für die US-Geostrategen seit langem eine ausgemachte Sache: die EU und hier vor allem Deutschland.


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