© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

Kolumne
Nahes Ausland
Heinrich Lummer

Warum war Gorbatschow so unbeliebt bei den Russen, ganz im Gegensatz zu der Beliebtheit, der er sich bei uns erfreute? Weil die Russen übelnahmen, daß er die Zerstörung des "Reiches" in Kauf nahm. Davon träumen die Russen noch heute. Denn der Verlust Kiews und Minsks ist vom russischen Selbstverständnis nie wirklich verwunden worden. Ist doch Kiew nach russischer Sicht als die Wiege des russisch-orthodoxen Glaubens anzusehen. Putin setzt auf diese Karte. Die Krise um die Ukraine bringt es an den Tag.

Erneut! Obwohl alles schon einmal da gewesen ist. Früher hieß das die Theorie vom "proletarischen Internationalismus". Gemeint war damit: Was die Sowjetunion einmal besaß, war sie nicht mehr herauszugeben bereit. Später tauchte dieses Prinzip noch mal als "Breschnjew-Doktrin" auf, als es 1968 um die Ausbruchsversuche der CSSR aus dem Sowjetblock ging. Da wurde die Theorie der begrenzten Souveränität entwickelt. In der Theorie vom "nahen Ausland" taucht sie wieder auf. Dahinter steckt das Bestreben, möglichst den Bestand der früheren Sowjetunion zu erhalten. Das mindeste wäre es, die Rolle Rußlands als Hegemonialmacht zu bewahren.

Von daher erklären sich die Worte Kutschmas, die er vor seinem "Befehlsempfang" in Moskau gesagt hat, daß ohne "direkte Beteiligung Rußlands" keine Lösung des Problems möglich sei. Das "nahe Ausland" ist demnach der Bestand der früheren Sowjetunion, zumindest die Länder der unmittelbaren Nachbarschaft. Das alles geschieht vor dem Hintergrund eines dank Putin gewachsenen Selbstbewußtseins. In der Tat, wenn ihm in Tschetschenien freie Hand eingeräumt wird, könnten auch "Hilferufe" aus Kiew auf Gehör stoßen. Schließlich gibt es einen Dissens zwischen Moskau und Kiew, zwischen Putin und dem Obersten Gericht, der nichts Gutes verspricht. Während das Oberste Gericht sich für die Wiederholung der Stichwahl entschied, entschieden sich Putin und Kutschma für die Wiederholung des gesamten Wahlvorganges. Denkt der schlecht, der ihnen ein Spiel mit der Zeit unterstellt?

Der Westen steht vor einer schweren Entscheidung. Soll er wie in den Fällen Tschetschenien, Moldawien, Abchasien, Süd-Ossetien die Augen zudrücken und "Putin widerspruchslos in seinem Vorfeld agieren" lassen? Darf er anderen Staaten ein Modell aufzwingen? Demütigungen einer Großmacht oder Klartext, das ist hier die Frage. Ein Hauch von Jalta liegt in der Luft. Erneut bilden sich Interessensphären! Oder ist das nicht längst geschehen?

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a. D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen