© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/04 10. Dezember 2004

Adieu Europa!
Mit dem Beitritt der islamischen Türkei wird die EU auch ihr Ende besiegeln
Doris Neujahr

In diesem Jahr erfolgt die große Bescherung schon eine Woche früher. Am 17. Dezember werden die europäischen Staats- und Regierungschefs der Türkei Beitrittsverhandlungen zur EU offerieren. Von nun ab wird die Türkei auch bei EU-internen Verhandlungen als steinerner Gast mit am Tisch sitzen. Die türkische Regierung äußert sich viel selbstbewußter, als die Osteuropäer sich das - in formal komfortablerer Lage - je unterstanden haben: damit klar ist, wer hier die Regeln und das Tempo vorgibt.

In Deutschland wird daraus sehr schnell eine große innenpolitische Dynamik entstehen. Die Türken werden mehr Rechte, Privilegien und Geld fordern, und das Standardargument der deutschen Regierung an das eigene Volk wird lauten, man dürfe den künftigen Partner nicht enttäuschen, man müsse Vorleistungen erbringen, Vertrauen schaffen, Toleranz üben und wie das politisch korrekte Geschwätz sonst noch geht. Praktisch wird das bedeuten, daß Deutschland, das auf Spezialisten für Hochtechnologie angewiesen ist, den Import von in archaischen Vorstellungswelten verwurzelten Menschen weiter steigern wird, mit katastrophalen Folgen für die Sozial- und Bildungssysteme und für den Alltag in den Städten.

Weder politisch noch ökonomisch, kulturell oder militärstrategisch gibt es einen Grund, der Türkei die Vollmitgliedschaft anzubieten statt der privilegierten Partnerschaft. Altkanzler Helmut Schmidt hat in einem beschwörenden Artikel in der Zeit darauf verwiesen, daß die Überdehnung der EU außer der Türkei nur den USA nutzt. Doch seine Einwände sind Schnee von gestern. Die innere Entwicklung der EU wird jetzt dem Naturgesetz der Entropie folgen, das heißt, das wenige, was sie an gemeinsamer Substanz herausgebildet hat, wird sich in den überdehnten Räumen verflüchtigen.

Für Deutschland handelt es sich um ein außenpolitisches Desaster. Es war zu wenig Realpolitik, dafür zuviel Romantik, wenn nicht Schlimmeres, am Werke. Europa war in den letzten 15 oder 20 Jahren für viele zur postnationalen Fluchtburg geworden, wo ihnen der Wirklichkeitsbezug abhanden kam.

Übrigens: Nichts gegen das gute Verhältnis zu Rußland und Energielieferungen von dort. Wenn der deutsche Kanzler jedoch Wladimir Putin als "lupenreinen Demokraten" feiert, dann hat die Prinzipienlosigkeit ein Niveau erreicht, das die EU politisch und moralisch unterminiert. Ehemalige Ostblockstaaten wie Polen werden sich in der Annahme bestätigt sehen, daß sie im Ernstfall Schutz nur von den USA zu gewärtigen haben. Kein Wunder, wenn sie sich in der Frage des Türkei-Beitritts als Briefträger amerikanischer Wünsche aufführen - gegen ihre eigenen finanziellen Interessen. Gerhard Schröder, auch das muß einmal gesagt werden, hat nicht annähernd das Format Otto von Bismarcks, der mit fünf Bällen gleichzeitig jonglieren konnte.

Schröder, ein Mann von gewinnendem Charme, selbstverliebt, hart arbeitend, gutwillig gewiß und neuerdings von der Göttin der Geschichte dazu verführt, selber welche zu schreiben. Das ist fatal, denn seine historische und kulturelle Halbbildung macht ihn unfähig zu strategischer Antizipation. Er schwadroniert von deutschen Wegen und Interessen, ohne in der Lage zu sein, sie klar zu formulieren. Nicht einmal in den deutsch-französischen Beziehungen ist er wirklich erfolgreich. Auf seinem Lieblingsfeld, der "Industriepolitik" (was schicker klingt als "Wirtschaftspolitik"), führen die cleveren Franzosen ihn immer wieder vor, erst in der Pharma-, jetzt in der Luft- und Raumfahrtindustrie. Und dieser Kanzler will uns etwas über türkische "Brückenfunktionen" und "europäischen Islam" erzählen?

Der zweite Berliner Akteur: Joschka Fischer, der es auf Bismarcks Amtssessel geschafft hat, was zweifellos eine Katastrophe ist. Sein außenpolitisches Credo, vor zehn Jahren aufgeblasen zu einem aufgeregten Traktätchen, ist eine Mischung aus Germanozentrismus und deutschem Selbsthaß. Trotzdem kann man gar nicht anders, als für diesen Burschen angewiderte Bewunderung zu empfinden; seine Karriere erinnert an alte Märchen, wo der beschränkte, aber bauernschlaue Träumerhans am Schluß die Prinzessin und das ganze Reich gewinnt. Die Türkei in der EU wäre ein "D-Day gegen den Terrorismus", schwatzt er daher, Leerformeln ohne den Schatten einer Beweiskraft, aber verräterisch über sein Motiv: das schwärende Ressentiment gegen das eigene Land.

Und schließlich eine Opposition, die mit falscher Stimme nach Patriotismus und Leitkultur ruft. Zu spät, zu wenig, zu dumm, zu feige, Ihr Bürgerlichen! Angela Merkel gleicht einer Hausfrau, die sehen muß, wie die Familie lustlos im faden Mittagsmenü herumstochert, und sich mit der Hand an die Stirn schlägt: Ich Huschelchen, wie konnt' ich's nur vergessen - erst der Patriotismus gibt ja die Würze! Man könnte diese Betrachtung auf Medien, Kirchen, Gewerkschaften und Universitäten ausweiten. Nun hört man, der letzte Rettungsanker sei vielleicht ein Referendum in Frankreich oder anderswo. Der mündige BRD-Bürger findet sich also in einer Lage wieder wie weiland der DDR-Bewohner, welcher, weil er von der eigenen Regierung nichts erwarten durfte, stets darauf hoffte, die andere Seite, Bonn, werde sich seiner Interessen schon annehmen.

Nicht einmal die Erwartung, die EU-Mitgliedschaft der Türkei sei eine Versicherung gegen den Terrorismus, wird sich erfüllen, denn die Eiterherde des Terrors heißen Afghanistan, Irak und Nahost. Die Türken in Brüssel ändern daran überhaupt nichts. Es könnte aber sein, daß Ankara sehr bald mit Nachdruck den Wunsch an Brüssel übermittelt, die Europäische Union möge den Nahen Osten, der schließlich jetzt de facto ein Anrainer ist, noch mehr alimentieren. Schon heute wird die Bevölkerung im Gaza-Streifen fast vollständig aus EU-Steuergeldern ernährt, nachdem Israel dort alle Infrastruktur in Stücke geschlagen hat.

Die faktische Abdankung der EU greift über das Politische hinaus. Wenn die Bezeichnung "Christenklub" zum Schimpfwort wird und Meinungsführer dekretieren, Kulturen und Religionen dürften - auf europäischem Boden! - nicht "hierarchisiert" werden, dann zeigt sich darin der von Oswald Spengler beschriebene Nihilismus: "Wo Gründe für Lebensfragen überhaupt ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig geworden." Spengler sah das Verschwinden des Kulturmenschen zugunsten des Fellachen voraus. Dessen häßlichster Phänotyp aber ist gewiß nicht der stolze Ziegenhirt aus Anatolien, sondern der schwach, stumpfsinnig und herzensträg gewordene Europäer.


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