© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/04 03. Dezember 2004

Ein oranges Volksfest statt Revolution
Ukraine I: Seit über einer Woche protestieren Anhänger des Oppositionskandidaten Juschtschenko gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl
Valerija Minskaja

Seit Monaten prägen die orangefarbenen Töne des Oppositionsbündnisses "Nascha Ukraina" und seines Kandidaten Viktor Juschtschenko die ukrainische Hauptstadt Kiew. In den letzten Tagen hat das Orange für die Menschen an Bedeutung gewonnen: Es ist nicht nur eine herbstliche Farbe, sondern ein Symbol für die Bürgerrechte und für demokratische Erneuerungen. Diese Farbe trägt scheinbar fast jedermann - als Tuch, Weste, Jacke, Kopfverband oder Mütze.

Und im Zentrum Kiews tobt seit über einer Woche eine friedliche orangefarbene "Revolution", eine seit der Unabhängigkeit 1991 nie dagewesene Massenkundgebung der Menschen, die sich nicht mehr für dumm verkaufen lassen wollen. Sie protestieren gegen die massiv gefälschten Ergebnisse der Präsidentenwahl vom 21. November.

Zur Protestaktion ist auch die Philologiestudentin Alexandra mit ihrem Freund Nikita aus der südukrainischen Stadt Cherson angereist. Im Zeltlager der Jugendbewegung Pora ("Es ist Zeit!"), das auf der großen Kiewer Flaniermeile Kreschtschatik aufgeschlagen wurde, wohnen die beiden 20jährigen seit dem 22. November, dem allerersten Tag der Manifestation.

Bei minus sieben Grad und starkem Schneefall ist das Leben trotz allem Enthusiasmus hart. Die Protestler wärmen sich mit einem Glas Tee in der Hand an vielen gleich auf der Straße angelegten Feuern, braten sich am Grill Kartoffeln und Fleischspieße und unterhalten sich über die Ereignisse des letzten Tages. Der noch amtierende Präsident Leonid Kutschma habe über das Geschehen überhaupt keine Kontrolle mehr. Heute sähe man es deutlicher als zuvor: er sei ein Verräter, eine Marionette des Kremls. Und daß Sergej Tigipko, Zentralbankdirektor und Leiter des Wahlkampfstabs von Premier Viktor Janukowitsch, heute von seinen beiden Ämtern zurückgetreten ist, sage vieles aus: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff der Machthaber.

Die Stimmung im Zeltlager sei ungebrochen, sagt Nikita. "Wir werden hier ohne unseren Sieg nicht wegziehen! Das Studium kann jetzt ein bißchen warten - für die große Sache. Sogar einige unserer Professoren sind mit uns gekommen. Juschtschenko hat in uns den Glauben an eigene Kräfte und Selbstvertrauen geweckt. Die müssen wir jetzt verteidigen", so Alexandra.

Inzwischen haben einige der Protestler für ihren Mut Tribut zollen müssen: Erfrierungen, Verkühlungen und Grippalinfekte mehrten sich, erzählt die Pora-Freiwillige Oxana, die vor einer Stunde ihre Nachtschicht als Krankenschwester angetreten hat. Ihr Medpunkt wird stark frequentiert. Heute früh sei eine ältere Dame ohnmächtig geworden: Sie habe mit jemandem aus Rußland aufgeregt über die Politik und die Einmischung des Kremls diskutiert, aber ihr Herz habe in der starken Emotionswallung nicht mitspielen wollen.

Antibiotika, Halstabletten und Aspirin gehen im Pora-Lager weg wie warme Semmeln. Mangel an Medikamenten bestehe jedoch nicht, sagt Oxana. "Im Gegenteil: Wir bitten die Menschen, uns keine Medikamente mehr zu bringen. Wir wissen nicht mehr, wohin damit", berichtet Rettungsarzt Jaroslaw Bowak. Er habe in diesem Lager auf dem Maidan Nesaleschnasti (Platz der Unabhängigkeit) eine ungewöhnliche Solidarität erfahren. "Ich dachte, wir Ukrainer leben alle nach dem Motto 'Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts!' Aber nein, wir sind eine Nation mit viel Zivilcourage und großer Aufopferungsbereitschaft", so Jaroslaw.

Kiew wurde in der letzten Woche Ziel von freiheitsliebenden Studenten aus Danzig, Krakau und Warschau, Aktivisten aus Sankt Petersburg, Kasan und Moskau. Sogar weißrussische Oppositionelle leisten ihren ukrainischen Nachbarn im Pora-Lager Beistand. Wie Maslowskij (34), Führungsmitglied der weißrussischen Oppositionspartei Nascha Gromada: "Meine Parteikollegen und ich wollen hier das ukrainische Volk in seinem Kampf für die Freiheit unterstützen. Zumindest bei unseren Nachbarn soll endlich die Demokratie siegen. Die Wahlen bei uns wurden neulich auch gefälscht, aber zu solchen Protesten wie in der Ukraine ist es leider nicht gekommen. Hoffentlich wird die Ukraine für unser Land eine lehrreiche Lektion für die Zukunft erteilen."

Die Zeltler sowie jene, die dem fast 14stündigen Konzert auf dem Maidan beiwohnen, gehen hin und wieder in die benachbarten Geschäfte, um sich aufzuwärmen. Im Gastronom, dem großen Lebensmittelgeschäft am Kreschtschatik, herrscht nun ein reges Leben. Die Regale sind übervoll. Zur Sorge um Warenknappheit gebe es keinen Grund, behaupten die Verkäuferinnen. Sie schauen alle recht müde aus, konnten sich ihre Freundlichkeit aber bewahren.

Sogar einstige Politgegner, die zuvor unterschiedliche Kandidaten unterstützen, kommen sich langsam näher. Die Rufe "Ost und West zusammen!" der "Nascha Ukraina"-Anhänger scheinen kein bloßer Schall gewesen zu sein.

Der Automechaniker Denis Wjatkin (34) aus dem östlichen Industriezentrum Donezk eilte auf Geheiß der Partei der Regionen des Regierungskandidaten Viktor Janukowitsch nach Kiew. Bei einer Versammlung wurde ihm erzählt, die Donezker müßten dringend in die Hauptstadt fahren, um "dem Putsch des Faschisten Juschtschenko heftigen Widerstand zu leisten", sonst käme die Ukraine "unter den amerikanische Hammer", berichtet Denis. Juschtschenkos Geld stamme ja aus den USA, sogar seine Ehefrau sei US-Bürgerin. "Janukowitsch sei einer von uns, ein Donezker", erzählt Denis und stellt seine Bierflasche auf eine Eistruhe.

In Kiew habe er gesehen, womit er nicht gerechnet hätte: Auf den Straßen erwarteten ihn und seine Landsleute keine "Feinde" oder "Faschisten", sondern wohlwollende Menschen, und die Stimmung sei nicht wie im Krieg, sondern eher wie in der Silvesternacht. "Ich vermute, zu Hause in Donezk haben wir nur die halbe Wahrheit erfahren", denkt Denis laut. "Im Fernsehen haben sie mit Juschtschenko sogar kleine Kinder eingeschüchtert", erzählt er seinem Gesprächspartner Taras Maly (37), der ihm beim Biertrinken Gesellschaft leistet. Im galizischen Lemberg hat Taras seine Familie und seine Stelle als Zahnarzt zurückgelassen, um zusammen mit Ex-Studienkollegen in Kiew Juschtschenkos Kampf für legitime Wahlen zu unterstützen. Taras hofft sehr darauf, daß Juschtschenko für ein anständiges Leben seiner Landsleute in der Ukraine sorgen wird.

In Galizien sei schon ein Fünftel der Bevölkerung zum Arbeiten nach Westeuropa ausgewandert, berichtet er. Ein Jammer sei das, besonders für Kinder, die mit alten kranken Großeltern und ohne die Eltern aufwachsen müssen. Noch eine Weile diskutieren die Männer über Politik. Vollständig überzeugen können sie einander noch nicht. Bevor jeder von ihnen zu seinen Landsleuten zurückkehrt, tauschen Denis und Taras zum Andenken ihre Attribute aus: ein orangefarbenes Tuch der "Nascha Ukraina" gegen das weißblaue der Janukowitsch-Anhänger.

Auf dem Maidan ist am späten Abend das Konzertprogramm immer noch voll im Gange. Berühmte und weniger berühmte Künstler, Rock- und Pop-Bands wechseln sich regelmäßig ab. Sie sorgen für Ausdauer und gute Laune der Leute. Die Musiker von der Rockband TOK warten gerade hinter der großen Bühne darauf, endlich mit ihrem Auftritt dranzukommen - ohne orangefarbene Attribute. "Wir kommen aus dem Osten, aus Dnepropetrowsk. Die Mehrheit dort ist für Janukowitsch. Als wir nach Kiew aufbrachen, wollten wir durch das Orange nicht provozieren und unsere teueren Instrumente nicht gefährden. Zu Hause kamen wir uns fast vor wie Untergrundkämpfer, die sich tarnen müßten", so Viktor von TOK.

"Die Hauptsache, es stimmt alles mit der Seele und der Gesinnung. Wir kommen nach Kiew ohne Orange, aber mit einem Ziel. Wir wollen allen zeigen: Die Menschen aus unserer Stadt, die fortschrittlich und freidenkend sind, unterstützen Juschtschenko und nicht Janukowitsch. Schauen Sie, wir Ukrainer sind ein ruhiges Volk und lassen uns nicht leicht zur Aufruhr bringen. Wie lange mußten unsere Machthaber unserem Volk in die Seele spucken, damit wir uns endlich so wie hier auf dem Maidan erheben?" In der Kiewer Innenstadt herrscht bislang keine Kampf-, sondern Karnevalsstimmung. Und die umliegenden Geschäfte machen kolossale Umsätze - mit Ware in der Trendfarbe Orange.

Foto: Viktor Juschtschenko mit Anhängern in Kiew: Die Stimmung ist derzeit fast wie in einer Silvesternacht


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