© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/04 26. November 2004

Authentischer als jeder Dogma-Film
Kino I: In "Die fetten Jahre sind vorbei" von Hans Weingartner spielt Daniel Brühl mal wieder sich selbst
Ellen Kositza

Nachts gehen Peter (Stipe Erceg) und Jan (Daniel Brühl) Plakate kleben, gegen die Bonzen und die Unterdrückung der Armen, für eine bessere Welt. Glaubt jedenfalls Jule (Julia Jentsch), Peters Freundin. Jule selbst ist hochverschuldet, seitdem sie einen Auffahrunfall verursacht hatte, bei dem der Wagen eines schwerreichen Managers Totalschaden erlitt. Pech, daß sie zu diesem Zeitpunkt monatelang ihre Versicherung nicht eingezahlt hatte.

Acht Jahre wird es dauern, bis sie die 100.000 Euro abgezahlt hat - wenn das klappt mit dem Studium auf Lehramt. Dabei hatte sie eigentlich gar keinen Beruf angestrebt; "wild und frei" stellte sie sich ihr Leben vor. Seit kurzem kellnert sie in einem Nobelrestaurant, dient dort Millionären, deren Gespielinnen und einem hartherzigen Chef. Jule hat es schwer, die eigene Wohnung muß sie aufgeben. Doch was wiegt ihr Lied gegen das Elend der Dritten Welt - dieses Wissen ist ihr Trost und revolutionärer Ansporn zugleich.

Jan, Peters Busenfreund, lernt sie erst richtig kennen, als der ihr bei der Renovierung ihrer Wohnung hilft, weil Peter einen Auslandstermin wahrnehmen muß. "Scheiß auf die Kaution", rät Jan Jule, und die Renovierung gerät zur Farb- und Ketchuporgie. Dabei entdecken die beiden ausgelassenen Nichtsnutze ihre Liebe zueinander, und Jan verrät Jule ein Geheimnis: Nicht ums Plakatekleben geht es bei den nächtlichen Touren, sondern um Wohnungseinbrüche zu Erziehungszwecken. Die beiden Freunde kundschaften Villen aus, steigen ein, klauen niemals, verrücken nur das Mobiliar und hinterlassen eine handschriftliche Botschaft: Sie haben zuviel Geld. Die fetten Jahre sind vorbei. Die Erziehungsberechtigten.

Jule überredet Jan, in das Haus ihres Gläubigers einzusteigen. Liebesblind willigt der Junge ein, und es kommt, wie es kommen muß: In letzter Sekunde werden die beiden Einbrecher aus Moral vom Eigentümer (Burghart Klaußner) gestellt. Jan schlägt den gesetzten Herrn nieder, doch der hat in Jule bereits seine Unfallgegnerin erkannt. Kurzerhand wird der bewußtlose Mann gefesselt und ins Auto gepackt. Zusammen mit Peter, der notgedrungen eingeweiht wird, reisen die Möchtegern-Revoluzzer planlos auf eine einsame Almhütte in den Tiroler Alpen.

In der solchermaßen erzwungenen Gemeinsamkeit, die gelegentlich in nette Trink- und Kiffrunden mündet, erweist sich der verhaßte Bonze mit dem Jahreseinkommen von 3,4 Millionen als alter 68er - und somit als einstmals gar führendes Mitglied der Vorbildgeneration der drei Freunde. Beim Joint, der herumgeht, wird nun das satte Leben des Multimillionärs und Familienvaters gegen die - in Wahrheit ebenfalls reichlich satten - Visionen der selbsternannten Erziehungsberechtigten abgeglichen, und der Ausgang der Entführung erscheint offen...

Der junge Regisseur und Drehbuchautor Hans Weingartner, der vor drei Jahren mit seiner Drogen- und Psychogeschichte "Das weiße Rauschen" höchst erfolgreich debütierte, dürfte in punkto Authentizität selbst die Dogma-Filme übertreffen. Oberster Bürge für das durch und durch Lebensnahe seiner Charaktere ist Daniel Brühl, der hier wie dort den Protagonisten gibt.

Brühl, der doch immer nur sich selbst zu spielen scheint, verkörpert wie kaum ein anderer Schauspieler den Prototyp unserer Zeit, er ist in sämtlichen Abiturklassen, Grundsemestern und Cliquen der heutigen twentysomethings schier im Dutzend zu haben: auf eine kumpelige Art philosophisch gestimmt, halbherzig sinnsuchend also, den Mainstream verachtend und doch in der eigenen Profilschärfung über käufliche T-Shirt-Aufdrucke nicht wesentlich hinauskommend. Nett und unübersehbar harmlos, dieser Typ - trotz regen Bemühens um eine Ausstrahlung irgendwie abgebrühter Coolness: Das ist Jan, das ist Daniel Brühl. Man muß ihn mögen in seinem Eifer, irgendwie, aber man darf ihn belächeln.

Überhaupt, dieses unentschiedene "Irgendwie": am häufigsten kommt es aus dem Mund von Jule, dem eigentlich farb- und ahnungslosen Weibchen, das sich so redlich ums Mitreden und ein wenig emanzipierte Exzentrik bemüht. Analogien zu zahlreichen weiblichen 68er-Anhängseln sind überdeutlich. Weingartner zeigt das Planlose und Unreife seiner Figuren zwar unverhohlen, räumt ihnen aber dennoch die Chance zur Weltverbesserung ein.

Daß trotz menschlicher Schwächen "die besten Ideen überleben", durchzieht als mehrfach pathetisch ausgesprochenes Motto den Film. Daß diese "beste Idee", die der Gleichheit nämlich, eine Utopie ist und reines Gedankenspiel, läßt die Moral von der Geschicht' paradox und ein wenig kindisch erscheinen.

Foto: Jule (J. Jentsch), Peter (S. Erceg), Jan (D. Brühl): Was wiegt ihr Leid gegen das Elend der Dritten Welt


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