© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

"Unser Land ist verängstigt und verwirrt"
Niederlande: Der Mord an Theo van Gogh und die Folgen sind weiter bestimmendes Thema / Anschläge auf Kirchen und Moscheen
Jerker Spits

Zwei Wochen nach dem Mord an dem Regisseur Theo van Gogh durch einen radikalen Islamisten haben mehrere Anschläge die Niederlande aufgeschreckt. Das Land ist in einer Krisenstimmung. Nach bald zwei Dutzend Übergriffen gegen islamische und christliche Einrichtungen versucht die Regierung verzweifelt, die Bürger zum "Dialog" aufzurufen.

In Eindhoven, Rotterdam und Heerenveen wurden Moscheen angezündet, offenbar als Vergeltung für den Mord an Van Gogh. Im Brabanter Uden brannte eine islamische Grundschule ab. Die Täter hatten auf die Mauer der Schule "Theo, ruhe sanft" und "Scheißmarokkaner" geschrieben. In Rotterdam, Utrecht und Amersfoort wurden Molotow-Cocktails gegen protestantische Kirchen geschleudert.

Beim Räumen einer verdächtigten Wohnung in Den Haag wurde die Polizei von mutmaßlichen islamistischen Extremisten mit einer Granate angegriffen - zum Glück gab es nur Verletzte. Im Haager Viertel Laakkwartier herrschte bis in den frühen Abend ein Belagerungszustand. Weil man Angst hatte, daß die Extremisten die Wohnung sprengen würden, wurden Einwohner evakuiert. Sicherheitskräfte sperrten mehrere Straßen ab, die Antiterroreinheit BBE kam zum Einsatz, Scharfschützen der Marine bezogen Stellung auf Dächern. Am Abend stürmte die Antiterroreinheit die Wohnung, ein Extremist wurde an der Schulter verletzt, weil er den Anweisungen der Polizei nicht folgte. Die zwei Verdächtigten sollen Anschläge auf die islamkritischen Parlamentsabgeordneten Ayaan Hirsi Ali und Geert Wilders vorbereitet haben. Auch in Amersfoort wurde ein Moslem-Extremist festgenommen.

Die Polizeiaktionen werden von den meisten Niederländern begrüßt. Zugleich verstärken sie aber das Gefühl von Unsicherheit, Angst und Mißtrauen besonders islamischen Bevölkerungsgruppen gegenüber.

Ein Beispiel für das wachsende Unbehagen ist das Verhalten der Filmfirma Column, die den Kurzfilm "Submission" von Theo van Gogh produziert hat. Spiegel-TV wollte den Film, der die brutale Unterdrückung von Frauen im Namen des Islam provokant thematisiert, letzten Sonntag auf RTL den deutschen Zuschauern präsentieren, doch Column hat die Ausstrahlungsrechte "vorerst" gestoppt. Nach dem Mord an dem Regisseur wolle man sich zunächst "besinnen", erklärte eine Column-Mitarbeiterin in Amsterdam. Lediglich über eine niederländische Internetseite kann "Submission" derzeit angesehen werden.

Ministerpräsident Jan Peter Balkenende rief die Bevölkerung nach dem Anschlag auf die Udener Koranschule dazu auf, "kühlen Kopf zu bewahren". "Wir haben keinen Krieg, ich würde das Wort Streit bevorzugen", sagte der Christdemokrat (CDA) in einer Reaktion auf die Worte seines rechtsliberalen Vizepremiers Gerrit Zalm (VVD), der letzte Woche von einem "Krieg gegen den radikalen Islam" gesprochen hatte. Balkenende besuchte die ausgebrannte Schule und rief dabei die Niederländer zu Toleranz und Geschlossenheit auf.

Justizminister Piet Hein Donner (CDA) meinte: "Wenn wir in diesem Tempo weitergehen, gibt es bald nur noch dampfende Ruinen. Unser Land ist seit einer Woche verängstigt und verwirrt. Es schwelt." Die niederländische Königin Beatrix besuchte in Amsterdam Vertreter von verschiedenen Jugendorganisationen und brachte ihre Betroffenheit zum Ausdruck.

In einer langen Sitzung im niederländischen Parlament wurde der Dreierkoalition aus CDA, VVD und Linksliberalen (D'66) vorgeworfen, die Gefahr des radikalen Islamismus unterschätzt zu haben. Vor allem Johan Remkes (VVD), als Innenminister für die Arbeit des Sicherheitsdienstes AIVD verantwortlich, geriet in die Kritik. Schon wenige Tage nach dem Mord hatte sich herausgestellt, daß der Verdächtige im Van-Gogh-Mord, der 26jährige niederländisch-marokkanische Doppelpaßbesitzer Mohammed B., dem Sicherheitsdienst bekannt war, aber nicht auf der Sonderliste von 150 gefährlichen Islamisten stand. Außerdem sollen AIVD-Mitarbeiter vertrauliche Informationen an islamistische Extremisten weitergegeben haben.

Der sozialdemokratische Oppositionsführer Wouter Bos (PvdA) warnte davor, die Gefahr des Islamismus zu unterschätzen. "Ich hätte nie gedacht, daß ich in den Niederlanden einmal aufwachen würde mit dem Gedanken: Ist heute nacht wieder ein Brandanschlag auf eine Kirche, eine Moschee oder eine Schule verübt worden?" so Bos.

Grün-Links-Vorsitzende Femke Halsema wurde hingegen von der niederländischen Presse mit Spott bedacht, weil sie zuvor in einem Gespräch mit der Tageszeitung Trouw dazu aufrief, Mohammed B. nicht als "radikalen Islamisten", sondern als "Extremisten" zu bezeichnen - offenbar aus Angst vor einem Generalverdacht gegen den Islam.

Der scheidende niederländische EU-Kommissar Frits Bolkestein (VVD) rief den marokkanischen König Mohammed VI. dazu auf, deutlich zu machen, daß sein Land kein "Exporteur von Mördern" sein wolle. Notwendig sei eine Debatte über die Richtung des Islam auch in der arabischen Welt; der König werde von Marokkanern auch als Autorität in Religionsfragen betrachtet.

Der Mord an Theo van Gogh hat seit Jahren herrschende Spannungen sichtbar gemacht. Vor allem in den sozialen Brennpunkten der Großstädte Amsterdam, Rotterdam und Utrecht ist die Lage nach wie vor gespannt. Schon am 2. November, als Theo van Gogh ermordet wurde, schickte der Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen (PvdA) sogenannte "Bürger-Wächter" in die Viertel mit einem hohen Ausländeranteil, um nach dem Rechten zu sehen.

Wie vor zwei Jahren der Mord an dem charismatischen Politiker Pim Fortuyn (JF 20/02) wird nun der Mord an Theo van Gogh zum Anlaß, die Laxheit der Politik und die Konsequenzen einer falsch verstandenen Toleranz anzuprangern.

"Abends traue ich mich nicht mehr, mit meinem Hund auf die Straße zu gehen. Die jungen Marokkaner beschimpfen mich wegen des Hundes. Sie betrachten ihn als ein unreines Tier", sagt ein älterer Mann aus Overvecht, einem Viertel mit einem hohen Ausländeranteil in Utrecht.

"Man sollte sie alle rausschmeißen, unser Land war einmal schön, bevor die kamen", klagt ein anderer Mann. Die angespannte Lage scheint Van Goghs Kommentar zu den von Ausländern dominierten Vierteln in den niederländischen Großstädten zu bestätigen: "Wenn wir nicht aufpassen", warnte der Regisseur in einer Zeitungskolumne, "haben wir hier bald Zustände wie in Belfast".

Auch in Brüssel beobachtet man die Entwicklungen in den Niederlanden mit großer Sorge. "Dies kann in jedem anderen Land der EU geschehen", sagte EU-Justizkommissar António Vitorino. Doch der portugiesische Sozialist scheint die erweiterte EU noch nicht zu kennen: Im estnischen Tallinn oder im polnischen Krakau ist die soziale Lage weit schlechter als in Amsterdam oder Brüssel - gewaltbereite, eingebürgerte Islamisten gibt es dort allerdings nicht.

Foto: Blumenmeer in der Amsterdamer Linnaeus Straat, wo der Regisseur und Kolumnist Theo van Gogh ermordet wurde: "Man sollte sie alle rausschmeißen, unser Land war einmal schön, bevor die kamen"


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