© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/04 19. November 2004

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Versuchung
Karl Heinzen

Die Bundesrepublik Deutschland hat aus der Geschichte gelernt und daher von Anfang an darauf verzichtet, eine aktive Bevölkerungspolitik zu betreiben. Diese Weichenstellung wiegt moralisch um so mehr, als sie unser Gemeinwesen heute vor Probleme stellt, die es kaum noch zu lösen imstande ist. Wären staatliche Ignoranz und Passivität gegenüber der demographischen Entwicklung einfach nur eine bessere Politik, hätte man lediglich einen Fortschritt gegenüber dem Nationalsozialismus erzielt. So jedoch darf von einer glaubwürdigen Abkehr gesprochen werden.

Allerdings scheint die Öffentlichkeit immer weniger gewillt, das Thema insgesamt als ein Tabu anzuerkennen. Sehr viele Bürger erleben, daß es in ihrer alltäglichen Umgebung immer weniger junge und immer mehr alte Menschen gibt. Medien, die naturgemäß auf Effekthascherei aus sind, nähren den Eindruck, daß diese subjektive Beobachtung als eine soziale Tatsache angesehen werden könnte und errechnen eine düstere Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Die Irritationen der Bevölkerung wiederum setzen die Politik, so etwas läßt sich auch in einer bürgerlichen Demokratie leider nicht immer vermeiden, unter Zugzwang.

Bislang hat sie derartige Zumutungen der Bürger stets erfolgreich ins Leere laufen lassen und ist ihrem Grundsatz der strikten Nichteinmischung in die privaten Belange der Familiengründung und -planung treu geblieben. Unterdessen sind die Hoffnungen auf eine umfassende Ergänzung der Alterspyramide zu nahezu klassischer Form durch eine vermehrte Einwanderung junger Leistungsträger jedoch mehr und mehr geschwunden, und manche Politiker scheinen versucht, auf fragwürdige Instrumente zurückzugreifen. Da eine merkliche Entlastung der Familien angesichts der Haushaltsmisere nicht möglich ist und eine alternative Schlechterstellung der Kinderlosen an deren Widerstand scheitern dürfte, setzen sie hier insbesondere darauf, Angebote zu schaffen oder zu verbessern, die es Frauen erleichtern sollen, in der Doppelrolle als Arbeitnehmerin und Mutter zurechtzukommen. In diese Richtung zielen das neue Tagesbetreuungsausbaugesetz und die Kampagne für die Ganztagsschule.

Es ist jedoch müßig, sich über derartige Versuche zu empören, die freie Entscheidung der Einzelnen zu beeinflussen. Sie bleiben nämlich gottlob unter dem Strich wirkungslos, da sie auf anachronistischen Vorstellungen von der Berufswirklichkeit und den Lebensentwürfen der Menschen basieren. In der modernen Arbeitswelt mit ihren hohen Anforderungen an Mobilität und Flexibilität der Beschäftigten ist für Kinder grundsätzlich kein Platz. Unsere Vorstellungen vom richtigen Zusammenleben der Menschen verpflichten den Einzelnen, seine eigenen Interessen allen anderen voranzustellen. Die Aussicht, durch eine aus der Sicht der Sozialversicherungen wünschenswerte Fertilität einen Beitrag zu einer schöneren Statistik leisten zu können, ist wenig reizvoll.


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