© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/04 12. November 2004

Die Auflösung der Republik
von Bernd-Thomas Ramb

Wer Argumente für eine Beendigung der Bundesrepublik Deutschland vorträgt, läuft Gefahr, kurzerhand in einen Topf mit postkommunistischen Terrorgruppen geworfen zu werden, die mit dem provozierenden Geschrei "Deutschland, verrecke!" das Wegradieren eines deutschen Staates von der politischen Weltkarte fordern. Diesem geistigen Kurzschluß ist entgegenzuhalten, daß es sich hier nicht um eine modifizierte Neuauflage des Morgenthau-Plans von 1944 mit einer totalen politischen und wirtschaftlichen Entmündigung aller Deutschen handelt, sondern um eine konsequente Analyse einer möglichen Entwicklung des deutschen Föderalismus. Das Szenario einer Beendigung der Bundesrepublik Deutschland beinhaltet zwar das Ende eines deutschen Staates, gleichzeitig aber den Beginn autonomer Existenzen mehrerer deutscher Staaten, den ehemaligen Bundesländern entsprechend, - geradezu ein Alptraum für die erwähnten Deutschlandhasser.

Die Zukunft der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik Deutschland ist auch das im Hintergrund schwebende Diskussionsthema einer aktuellen Länderkommission, die in Zusammenarbeit mit als Gästen geladenen Vertretern der Bundesregierung eine Neuordnung der Aufgabenteilung und Kompetenzen zwischen Bund und Ländern austarieren will. Die Meinungen sind kontrovers, und der Streit in der Föderalismus-Kommission um die Reform des Zusammenwirkens von Bund und Ländern läßt sich auf eine Kernfrage konzentrieren: Wer erhält künftig mehr Macht, der Bund oder die Länder?

Ein reiner Tauschhandel der Kompe-tenzbereiche - etwa nach dem Motto, mehr Kompetenz des Bundes in Bil-dungsfragen und dafür größere Gestal-tungsfreiheit der Länder bei der Sozialpolitik - macht wenig Sinn, da beide Seiten in erster Linie Machtverlust und Machtgewinn abwägen und allenfalls einem Kompromiß zustimmen, der die Machtverteilung unterm Strich unverändert läßt. Auf der Strecke zu bleiben droht dabei die konsequente - im wörtlichen Sinne radikale - Beurteilung der faktischen politischen Effizienz der unterschiedlichen Machtverteilungsva-rianten.

An der grundsätzlichen Einsicht in eine Reformnotwendigkeit mangelt es nicht. Das bestehende System des deutschen Föderalismus gilt in der gegenwärtigen politischen Situation und angesichts der zu erwartenden Entwicklungen politischer (Stichwort: Europa) und sozialstaatlicher Art (Reformdruck) als nicht mehr zweckmäßig. Auch werden Argumente ins Feld geführt, die durchaus den Anschein erwecken, die politische Effizienz verbessern zu wollen. Gedacht wird dabei jedoch in erster Linie an die Kosten. 16 plus 1 deutsche Kultusministerien sind ein kostspieliger Luxus, 16 plus 1 deutsche Finanzminister eine Geldverschwendung und so weiter. Ein zentralistisches Ministerium kann möglicherweise größere Kompetenz entwickeln als eine kleine "Provinzverwaltung". Folglich sollten - so der nachvollziehbare Wunsch der Bundesbehörden - möglichst viele der entsprechenden Ländereinrichtungen aufgelöst und deren Aufgaben bei einer einzigen Bundeszentrale konzentriert werden. Konsequent zu Ende gedacht, würde diese Sicht zur kompletten Abschaffung der Länder führen. Allenfalls könnten folkloristische oder repräsentative Aufgaben verbleiben, wie dies durchaus auch öffentlich von Bundespolitikern der Regierungsseite geäußert wird.

Die anhaltende Diskussion um die sogenannte Neugliederung der Bundesrepublik in einige wenige Bundesländer basiert ebenfalls auf diesen Überlegungen - wenn dabei auch nicht radikal die komplette Beseitigung der Länder gefordert wird, jedenfalls nicht in einem Schritt. Alle Absichten, die Zahl der Bundesländer zu verringern, führen im wesentlichen Kostenargumente ins Feld. Insbesondere den Stadtstaaten und den kleineren Bundesländern wird schlicht Geldverschwendung durch Überbürokratisierung oder teure Volksvertretungen vorgeworfen. Das Zusammenlegen von Ministerien und Parlamenten wird dagegen als effiziente Verwaltungs- und Staatsreform angesehen.

Diese Sicht der Effizienz behandelt das Problem der optimalen Größe einer politischen Verwaltungseinheit eindeutig unvollständig. Wären die Kosten der einzige zu beachtende Faktor, stieße die Argumentation schnell an ihre Grenze. Denn der deutsche Konzentra-tionsschritt ließe sich dann noch weiterführen. Schließlich ist Deutschland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch zunehmend politisch fest in der Europäischen Union eingebunden. Warum also nicht alle administrativen Belange auf Europa übertragen? Billiger geht es kaum. Also sollte man nicht nur die Länder, sondern auch den Bund abschaffen und die gesamte Kompetenz nach Brüssel verlagern!

Spätestens hier wird deutlich, daß die Einsparung der Verwaltungskosten einen politischen Preis hat. Die Vereinheitlichung der Verwaltung bedeutet eine Uniformität in der Behandlung individueller Bedürfnisse nach staatlichen Aktivitäten. Unstrittig dürfte sein, daß diesbezüglich Bayern andere Vorstellungen haben dürften als Hamburger und daß Sachsen und Saarländer nicht zwangsläufig die gleichen Ansichten hegen. Daran ändern auch die in den Bundesländern gleichnamig auftretenden Parteien nichts. Die nordrhein-westfälische SPD kann in ihrem länderspezifischen Programm mit der bayerischen CSU stärker übereinstimmen als mit einer vorpommerschen SPD.

Auch auf der europäischen Ebene können (typisch) deutsche und beispielsweise französische Vorstellungen von einer staatlichen Administration, ihren Kompetenzen und ihren Ausführungsverordnungen nicht ohne weiteres als gleichgeartet angesehen werden. Ganz zu schweigen von der praktischen Umsetzung. Schon jetzt bestehen vielfach Klagen über die unterschiedliche Stringenz, mit der einheitliche Verordnungen der EU in den einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. Die einen halten sich penibel an die Brüsseler Vorgaben, die anderen pflegen eine lässige Interpretation oder ignorieren sie sogar. Diesbezüglich nationale Eigenarten als nichtexistent oder im Sinne einer gemeinsamen europäischen Sichtweise als therapierbar einstufen zu wollen, ist schlicht eine euro-romantische Traumtänzerei.

Eine Vereinigung der politischen Administration unterschiedlicher Regionen oder Staaten kann (muß im übrigen nicht) die Verwaltungskosten senken. Erhöht wird jedoch in jedem Falle der Verlust an Gestaltungsmöglichkeiten, in kleineren regionalen Abgrenzungen den spezifischen politischen Vorstellungen der Bürger gerecht werden zu können. Aus der Sicht der Bürger sinkt damit das Ausmaß an Freiheit. Zwischen der Wohlfahrtsstiftung der Freiheit und den Kosten der Freiheit durch eine insgesamt möglicherweise aufwendigere staatliche Administration ist somit abzuwägen. Zumal die Ausschöpfung des regionalen Gestaltungsspielraums in bestimmten Fällen sogar eine Senkung der dort entstehenden Verwaltungskosten nach sich ziehen kann, wenn in diesem Land auf kostspielige staatliche Reglementierung verzichtet wird. Vermeintliche Kostensenkung durch Zentralisation kann somit aus doppelten Gründen nicht das alleinige Ziel einer föderalistischen Ver-waltungsreform sein.

Unter Beachtung des Stellenwerts einer dezentralistischen Freiheit kann die größere politische Effizienz dagegen in einer noch stärkeren Dezentralisierung liegen - im deutschen Falle im Beschluß, die Bundesrepublik aufzulösen und den deutschen Ländern die Eigenstaatlichkeit zuzubilligen, die andere kleine Staaten in Europa auch genießen.

Nordrhein-Westfalen ist bevölke-rungsreicher als die Niederlande, und Thüringen hat mehr Einwohner als Lettland. Die Niederlande entsenden 27 Abgeordnete in das Europaparlament, Nordrhein-Westfalen nur 20 Abgeordnete, Thüringen ist gerade einmal mit drei Abgeordneten vertreten, Lettland dagegen mit neun. Würden die autonomen deutschen Einzelstaaten mit den anderen europäischen Ländern gleichbehandelt - und was könnte legal dagegen angeführt werden? -, stiege ein deutscher Einfluß auf die EU-Politik nach einer Auflösung der Bundesrepublik enorm.

Dieser Effekt dürfte mit großer Sicherheit eine europäische Zustimmung zu dieser Entwicklung erschweren, wenn nicht sogar verhindern. Das historische europäische Trauma vor einem zu starken Deutschland könnte von der größeren Furcht vor einer zu großen Ansammlung deutschen Einflusses über deutsche Länder abgelöst werden. Andererseits, wie wollen die anderen europäischen Staaten einem souveränen deutschen Beschluß zur Autonomie der deutschen Länder begegnen, wenn nicht mit der unmittelbaren Integration in das vereinte Europa?

Zur Verdeutlichung weiterer Konsequenzen einer in deutsche Einzelstaaten aufgelösten Bundesrepublik hilft ein Blick auf die gegenteilige Entwicklung. Mit einer Auflösung der deutschen Länder in einer zentralistischen Bundesrepublik wäre die Konzentration der Macht auf wenige Personen verbunden. Wenige Politiker, die mit mehr Macht ausgestattet sind, lassen sich nicht nur einfacher ansprechen, sondern auch leichter beeinflussen. Das Risiko einer Manipulation wäre damit erhöht. Das gilt sowohl für eine ausländische Beeinflussung als auch für die innerbundes-republikanische Steuerung der Politiker durch Interessengruppen.

Umgekehrt vermindert eine Dezentralisation der Macht nicht nur die Gefahr einer einseitigen Beeinflussung sämtlicher Spitzenpolitiker, sie eröffnet auch die Möglichkeit einer Vergleichskontrolle. Damit entsteht eine potentielle Wettbewerbssituation zwischen den deutschen wie auch anderen europäischen Staaten um die effizienteste politische Gestaltung und Verwaltung. Dieser Zustand muß nicht zwangsläufig zu einer Uniformität der Administration führen. Jeder Einzelstaat kann unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Freiheitsbewertung und des gewünschten Verwaltungsumfangs entwickeln.

Staatsindividuelle Freiheit ist insbesondere hilfreich, wenn es um die adäquate Lösung von Problemen geht, die in einem größeren Staatsgebilde zu einer lähmenden Pattsituation und zu Dauerdiskussionen führen. Am Beispiel der Kontroverse um die Reform der Sozialsysteme in der Bundesrepublik Deutschland wird dies unmittelbar einsichtig. Wenn Bayern ein Krankenver-sicherungssystem mit allgemeiner gesetzlicher Versicherungspflicht und an das Einkommen gekoppelten Prämienzahlungen für optimal erachtet, Niedersachsen sich dagegen für eine Versicherungspflicht mit Pro-Kopf-Pauschale entscheidet, ist die Möglichkeit einer länderspezifischen Umsetzung (auch insgesamt gesehen) wesentlich effizienter als eine mühselig entwickelte Einheitslösung, die bestenfalls keinem recht ist, in der Regel aber den Interessen der Abstimmungsminderheit zuwiderläuft. Gleiches gilt für andere Sozialver-sicherungsprobleme, Bildungsfragen oder Kulturvorstellungen.

Von den Anhängern zentralistischer Lösungen wird gegenüber einer einzelstaatlichen Regelung häufig eingewandt, daß damit für den einfachen Bürger die Sachlage unüberschaubar würde. Für die individuelle Beurteilung der richtigen Politik oder der persönlich geeigneten Verwaltungsmethode müßten zahlreiche Informationen gesammelt und ausgewertet werden. Der Einzelne sei damit überfordert, das System sei "ungerecht", weil die Bürger in unterschiedlicher Weise dazu befähigt wären. Wenn im Extremfall sogar ein Wechsel des Wohnortes von einem deutschen Land in ein anderes das Ent-scheidungsergebnis sein könnte, wären aufgrund einer ungenügenden Verarbeitung der Informationsfülle Fehlentscheidungen nicht auszuschließen.

Dem ist entgegenzuhalten, daß Freiheit kein kostenloses Gut ist, sondern ihren Preis hat. Wer Informationskosten sparen will oder sich unsicher in der Informationsbewertung fühlt, kann auf den Ratschlag anderer hören und muß möglicherweise falsche Beurteilungen in Kauf nehmen. Solche Fälle durch eine Vereinheitlichung und damit die Aufhebung der Wahlfreiheit zentralstaatlich verhindern zu wollen, bedeutet, den Anspruch der besserwissenden Zentralstaatsmacht zu erheben. Zu welch falschen Ergebnissen eine Informationszentralisierung und die Aufhebung des individuellen oder regionalen Ent-scheidungsspielraums führen können, haben die sozialistische Planwirtschaft und die Ein-Partei-Diktaturen im erschreckenden Ausmaß verdeutlicht.

Wo bleibt aber bei einer Auflösung der Bundesrepublik die deutsche Nation, werden manche mit Entsetzen fragen. Das Ende eines deutschen Natio-nalstaates ist nicht notwendigerweise gleichzeitig das Ende einer deutschen Nation. Zu dieser kann sich jeder Bürger zugehörig fühlen, sofern ihm an Nationalität durch Herkunft und Kultur mehr gelegen ist als an einer bloßen einheitlichen Paß-Nationalität. Zudem kann ein staatlich aufgesplitterter Bezug auf eine deutsche Nationalität die ausländische Furcht vor einem einzigen großen deutschen Nationalstaat vermindern helfen.

Es bleibt die Frage, ob eine Auflösung der Bundesrepublik mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Staatsrechtler werden dazu unterschiedliche Auffassungen vertreten. Andererseits ist mit der fortlaufenden Preisgabe staatlicher Entscheidungsrechte und Verwaltungskompetenz auf die europäische Ebene eine Erosion der Bundesrepublik bereits eingeleitet, ohne daß ein Veto des Bundesverfassungsgerichts erfolgte. Das Ende der Bundesrepublik "nach oben" zuzulassen, eine Auflösung "nach unten" aber zu untersagen, wäre eine schwer verständliche Asymmetrie der Verfassungsinterpretation.

Doch diese Diskussion wird letztlich müßig, wenn wirtschaftliche Not die Länder zu Eigenmaßnahmen zwingt. Angesichts der maroden Staatsfinanzen und der kollabierenden Sozialsysteme könnte diese Situation schneller eintreten, als mancher Politiker glaubt oder wider besseres Wissen äußert. Sobald der Bund seine finanziellen Verpflichtungen nicht länger einhalten kann oder der Länderfinanzausgleich zu unerträglichen Belastungen einiger weniger produktiver Länder führt, wird der Zerfall der Bundesrepublik so sicher eintreten, wie es die Historie an den Beispielen der Sowjetunion und Jugoslawiens bewiesen hat. Warum also - im Namen der Vernunft und der Freiheit - nicht vorher schon die sinnvolle Lösung anstreben und den deutschen Bundesländern eigenstaatliche Autonomie zubilligen?

 

Prof. Dr. Bernd-Thomas Ramb, Jahrgang 1947, lehrte Wirtschaftswissenschaften unter anderem an der Universität/Gesamthochschule Siegen und arbeitet als selbständiger wirtschafts-wissenschaftler Berater.

In der kommenden JF-Ausgabe lesen Sie an dieser Stelle eine Erwiderung auf Rambs Aufsatz von Michael Wiesberg.


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