© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/04 12. November 2004

Bedingt abwehrbereit
Bundeswehr: Die Fähigkeit zur Landesverteidigung schwindet / Abschied von Reservistenorganisation und Territorialheer
Paul Rosen

Nur noch 350 schwere Kampfpanzer, keine 300 Flugzeuge und knapp 400 Kasernen: Deutschland bekommt die kleinsten Bundeswehr aller Zeiten. Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) hat aufgeräumt. Der alte Spruch des grünen Koalitionspartners, Frieden ohne Waffen schaffen, ist fast Realität geworden. Doch diese Rechnung wurde, wie der Volksmund sagt, ohne den Wirt gemacht. Denn der CSU-Außenexperte Gerd Müller meint, Deutschland sei nur noch bedingt abwehrbereit. Und für diese These spricht einiges.

Struck hat das von seinem Vorgänger Rudolf Scharping (SPD) übernommene Erbe nicht nur kräftig reduziert, sondern auch komplett umgestaltet. Die Zahlenstärke der Truppe soll von 280.000 auf nur noch 250.000 sinken, davon 50.000 Wehpflichtige. In Berlin kursieren bereits Gerüchte, daß heute schon nur noch 250.000 Mann unter Waffen stehen, weil aus Etatgründen immer weniger Wehrpflichtige einberufen werden. Zugleich wurde der Auftrag der Bundeswehr, die gemäß Grundgesetz für die Landesverteidigung zuständig ist, geändert. Am deutlichsten wird dies in Strucks Bemerkung, Deutschland werde in Zukunft am Hindukusch verteidigt. Dazu wird die Truppe aufgeteilt. 35.000 Mann sollen für heiße Konflikte zuständig sein, 70.000 Mann als Stabilisierungskräfte tätig werden, und der große Rest verwaltet die verbliebenen Standorte, sorgt für Nachschub in den Einsatzgebieten und bildet Nachwuchs aus.

Von der Landesverteidigung spricht Struck fast gar nicht mehr. Mit nur noch 400 über Deutschland verteilten Stadtorten kann auch von einer Präsenz in der Fläche keine Rede mehr sein. Schon bei Naturkatastrophen wird schnelle Hilfe schwierig, wenn die nächste Kaserne 100 Kilometer entfernt ist. Für die klassische Landesverteidigung ist die Bundeswehr so gut wie gar nicht mehr geeignet. Zwar hat Struck recht, wenn er sagt, er sehe keinen mehr, der Deutschland angreifen könnte. Diese Sicht könnte sich jedoch als zu kurz erweisen. Ebensowenig wie 1985 absehbar war, daß der Ostblock wenige Jahre später zusammenbrechen würde, ist heute die Frage zu beantworten, ob in einigen Jahren nicht vielleicht doch wieder ein Gegner vor der Tür stehen könnte.

Deutschlands Armee wird eine völlig andere sein

Bis dahin sind jedoch die meisten Strukturen abgeräumt. Die Bundeswehr muß gewiß keine 1.000 schweren Kampfpanzer haben, aber 350 Panzer des Typ Leopard 2 sind zu wenig. Außerdem löst Struck die weltweit vorbildliche deutsche Reservistenorganisation fast vollständig auf . Bisher verfügt die Bundeswehr über 280.000 Reservisten und rund 450 nicht aktive Verbände. Diese Verbände werden fast komplett aufgelöst, darunter auch die Reservelazarettorganisation. Auch wenn Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan darauf hinweist, daß die Keime für den Wiederaufbau und eine größere Mobilmachungsfähigkeit erhalten blieben, kann doch die Prognose gewagt werden, daß die Strukturen, die jetzt aufgelöst werden, nicht wiederherstellbar sein werden. Deutschlands Armee wird in wenigen Jahren eine völlig andere sein.

Mit den großen Worten von der Verteidigung am Hindukusch geht die Unfähigkeit einher, sich auf neue Bedrohungen einzustellen. Bei asymmetrischen Bedrohungen sieht es schlecht aus. Wenn schwerbewaffnete Terroristen zum Beispiel ein großes Einkaufszentrum angreifen würden, wäre die Polizei schnell überfordert. Man kann im Irak derzeit gut beobachten, wie nicht-militärische Kräfte vorgehen: Sie verfügen über Panzerfäuste, große Mengen Sprengstoff und Stinger-Raketen zur Bekämpfung von Flugzeugen. Bei den offenen Grenzen in Europa ist es keine Schwierigkeit, solche Waffen nach Deutschland zu bringen und sie auch einzusetzen. Gegen Panzerfäuste und Maschinengewehre ist die Bereitschaftspolizei machtlos.

Wehrgerechtigkeit existiert nicht mehr

Die zivilen Sicherheitskräfte wären auch überfordert, wenn mehrere deutsche Großflughäfen weiträumig gesichert werden müßten, weil es Hinweise gäbe, daß Terroristen mit Stinger-Raketen zivile Maschinen angreifen wollten. Kein geringerer als der frühere Heeresinspekteur Helmut Willmann hat darauf hingewiesen. Aber die rot-grüne Koalition hat ihre Hausaufgaben in diesem Bereich nicht gemacht. Zwar sprechen Struck und Schneiderhan von zivil-militärischer Zusammenarbeit, füllen sie aber nicht mit Leben aus. Einzig mit dem Luftsicherheitsgesetz hat die Koalition eine Maßnahme auf den Weg gebracht, um Rechtssicherheit für den Fall herzustellen, daß ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden müßte, ehe es wie am 11. September 2001 in New York als Bombe eingesetzt werden könnte.

Neben dem Territorialheer und der Reservistenorganisation steht auch die Wehrpflicht auf dem Spiel. Zwar haben die Nachbarländer der Bundesrepublik den Pflichtdienst bereits reihenweise abgeschafft. Die Erfahrungen dort sind alles andere als positiv. Die Qualifikation der Mannschaftsdienstgrade in diesen Armeen sinkt stark, Ausländer füllen die Reihen, die mit Einheimischen nicht mehr geschlossen werden können. Ähnlich verläuft die Entwicklung in Deutschland. Aus Kostengründen werden in diesem Jahr vermutlich nur noch 55.000 von insgesamt 415.000 erfaßten jungen Männern zur Bundeswehr eingezogen. Mit dieser Quote von 13,25 Prozent braucht über Wehrgerechtigkeit gar nicht mehr diskutiert zu werden. Sie ist de facto nicht mehr vorhanden. Schleichend verändert sich so die Qualität und Zusammensetzung der Bundeswehr. Aus einer Wehrpflichtarmee, die eng mit den Bürgern verbunden war, wird eine Art Berufsarmee, die sich ihre Soldaten dort sucht, wo sie sie findet: im großen Reservoir der Arbeitslosen, der Zuwanderer und der sozial benachteiligten Schichten. Daß in dieser Truppe noch Grundsätze wie die Innere Führung vermittelt werden können, erscheint zweifelhaft.

Eigentlich bedarf es des SPD-Wehrpflichtkongresses am Wochenende in Berlin nicht mehr. Das Urteil gegen die Wehrpflicht scheint längst gesprochen, Strucks Plädoyers für den Dienst sind Lippenbekenntnisse, Truppenreduzierung und schleichendes Ende der Wehrpflicht bedeuten aber mehr: All das zeigt an, daß wir uns vom Grundsatz der wehrhaften Demokratie verabschieden.

Foto: Bundeswehrkaserne im unterfränkischen Mellrichstadt: Die Armee zieht sich aus der Fläche zurück


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