© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/04 05. November 2004

Die geheime Kraft der Regionen
Ein wichtiger Aspekt des Umbruchs war der Kampf gegen den Zentralismus
Ekkehard Schultz

Wohl bei kaum einer gesellschaftlichen Umwälzung der letzten Jahrzehnte ließ sich an- hand der gezeigten Symbole die aktuelle politische Situation derart klar erkennen, wie bei der friedlichen Revolution in Mitteldeutschland von 1989/90. Während das untergehende Regime noch immer versuchte, mit Hilfe des Hammer-Zirkel-Ährenkranz-Emblems trotzig im öffentlichen Raum sein Fortleben unter Beweis zu stellen, trat längst schon auf den Großdemonstrationen das schwarz-rot-goldene Meer von Deutschlandfahnen seinen Siegeszug an. Zunächst noch ein wenig in ihrem Schatten, jedoch immer deutlicher, traten mit ihnen auch die alten Farben der 1952 aufgelösten Länder eine Renaissance ein.

In Sachsen nahm die Bewegung ihren Ursprung

Leider fand bis heute die Frage, welche Rolle der Kampf um die Wiederherstellung von parlamentarischen Gremien auf regionaler Ebene für die Entstehung des Massenprotestes in Mitteldeutschland spielte, nur selten größere Beachtung. Es war jedoch kein Zufall, daß die Bewegung vom sächsischen Leipzig und nicht von Ost-Berlin aus ihren Ausgang nahm. Denn bereits im Forderungskatalog der ersten Demonstranten, welche damals noch einen "demokratischen Sozialismus" für möglich hielten, stand die Beseitigung des zentralistischen Prinzips an einer der oberen Stellen. Alle Regionen sollten ein Mitspracherecht an grundsätzlichen Entscheidungen des Landes erhalten und im Regelfall eigenständig bestimmen können. Der zeitraubende und wenig konstruktive Weg über die Berliner Staats- und Parteizentralen sollte weitestgehend entfallen.

Insbesondere in den Südbezirken der DDR hatte sich über mehr als ein Jahrzehnt ein besonderer Unmut gegenüber der Berliner "Zentrale" aufgestaut: Bereits seit Mitte der siebziger Jahre versuchte der gebürtige Saarländer Honecker aus seinem Machtbereich der Mauerstadt ein "Schaufenster des Ostens" zu machen - auf Kosten des übrigen Landes, wo der Widerspruch zwischen den sozialistischen Heilsversprechungen und dem sichtbaren wirtschaftlichen Niedergang in weitaus schärferer und deutlicherer Form hervortrat. So wurden beispielsweise zur Verwirklichung des Wohnungsbauprogramms Arbeiter aus allen DDR-Bezirken abgezogen und zum Einsatz in Ost-Berlin verpflichtet. Gleichzeitig nahm die Wohnungsnot in den meisten anderen Teilen der DDR immer mehr zu. Den Höhepunkt der vielfach öffentlich zum Ausdruck gebrachten Empörung stellte die Bereitstellung großer Geldsummen für die Feiern zum 750. Geburtstag Berlins im Jahr 1987 dar, welche in erster Linie zur pompösen Selbstdarstellung des Regimes verwendet wurden.

Den zunehmenden Spannungen zwischen der DDR-"Provinz" und der Zentrale versuchte die Staats- und Parteiführung keineswegs durch einen mäßigenden Ausgleich entgegenzuwirken. Das Gegenteil war der Fall: Ebenso wie das Schüren eines ständigen Mißtrauens auch im engsten Kollegenkreis war auch die gezielte Ausnutzung der sich aus der historischen Entwicklung ergebenden Gegensätze und Mentalitätsunterschiede eine beliebte Methode der Machtsicherung. Sehr deutlich wurde dies bei der Auswahl von Wachsoldaten an der Berliner Mauer: Zu diesem Zweck wurden besonders viele Rekruten aus Sachsen zum Einsatz an diesem Ort verpflichtet, deren grundsätzliche Ressentiments gegenüber den "Preußen" - die durch die ökonomische Bevorzugung Berlins scheinbar bestätigt wurden - Kontakte zu den Einheimischen deutlich erschwerte. Zudem galt bei sächsischen Soldaten als wahrscheinlich, daß von ihnen nur ein geringer Teil verwandtschaftlicher Beziehungen nach Ost-Berlin unterhielt.

Letztlich konnten jedoch auch derartige Gräben nicht verhindern, daß sich Menschen unterschiedlicher regionaler, aber auch sozialer Herkunft schnell mit der anfänglich nur kleinen Anzahl von Montagsdemonstranten solidarisierten. Zu groß war bereits im Frühjahr 1989 die Distanz zwischen Regierung und Volk geworden: Die Fälschung der Volkskammerwahlen im Mai 1989, die Verteidigung der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung in China durch die DDR-Führung und die Versuche, die Leipziger Proteste ebenso im Keim zu ersticken, bewirkten eine starke Sympathie für die unerschrockenen Teilnehmer in allen Landesteilen. So wurden innerhalb weniger Monate die Demonstrationen von einem lokalen zu einem regionalen und schließlich nationalen Ereignis, welches spätestens im September 1989 Menschen aus nahezu allen Teilen der DDR zusammenführte. Dadurch rückte aber auch der regionale Kontext nahezu vollständig in den Hintergrund.

Die Forderung nach freien Wahlen war seit Oktober 1989 eine zentrale Forderung der Demonstranten gewesen. Mit der Festlegung des Termins der ersten freien Volkskammerwahlen auf März 1990 setzte eine Gründungswelle von Parteien ein, die jedoch in den meisten Fällen nur eine Lebensdauer von wenigen Monaten hatten. Zu ihnen gehörten auch die meisten Regionalparteien wie die "Sachsenpartei", die ohne Unterstützung einer "Mutterpartei" in Westdeutschland nicht die geringste Chance aufwiesen. Als einzige etwas längerfristig erfolgreiche Organisation, die aus diesem Prozeß hervorging, kann die DSU (Deutsche Soziale Union) angesehen werden, die zusammen mit CDU und DA (Demokratischer Aufbruch) erfolgreich aus den Volkskammerwahlen im März 1990 hervorging und an der Drei-Parteien-Koalition beteiligt war. Damit hatte die Partei allerdings bereits den Zenit ihrer Entwicklung überschritten, die anfängliche Unterstützung durch die bayerische CSU wurde auf Drängen der CDU schnell zurückgezogen: Konstellationen außerhalb des gewohnten bundesdeutschen Parteispektrums waren auf mittelfristige Sicht nicht erwünscht.

Auf der Grundlage des Ländereinführungsgesetzes vom 22. Juli 1990 wurde die Wiederherstellung der alten Verwaltungsstrukturen geregelt, die bereits vor 1952 existierten. Sachsen und Thüringen erklärten sich 1991 für Freistaaten. In einigen Grenzregionen wurde über die Zugehörigkeit zu einem Bundesland per Bürgerentscheid ein Urteil getroffen. Im Regelfall wurde dabei weniger eventuellen wirtschaftlichen Optionen als den gewachsenen historischen Verbindungen der Vorrang eingeräumt.

Regionale Identifikation ist seit 1990 zurückgegangen

Schon aus dieser Tatsache ergibt sich, daß in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung die Identifikation der Bürger mit den neuen Ländern zweifellos noch sehr hoch war. Zahlreiche Heimatvereine wurden gegründet bzw. neu belebt, zahlreiche Publikationen zur Ortsgeschichte erstellt. Auch die bis Mitte der neunziger Jahre außerordentlich hohe Nachfrage nach Immobilien unterstreicht diesen Trend. Trotz des damaligen sehr hohen Preisniveaus, welches teilweise die Relationen vergleichbarer westdeutscher Regionen erreichte oder sogar noch übertraf, richteten damit viele Einwohner ihre Lebensplanung auf einen langfristigen Verbleib in ihren Heimatregionen aus.

Mit der weiter anwachsenden beziehungsweise auf hohem Niveau stagnierenden Arbeitslosigkeit, den schlechten Ausbildungsmöglichkeiten und einer zunehmenden Perspektivlosigkeit ist jedoch spätestens seit Ende der neunziger Jahre eine Umkehrung dieser Entwicklung zu beobachten. Der häufige Umzug von Freunden und Verwandten aufgrund der mangelhaften Berufsperspektiven erschwert die Identifikation mit dem Land erheblich. Das Phänomen der "schrumpfenden Städte" weist nicht nur auf die ökonomischen Ursachen hin, sondern hat darüber hinaus langfristige psychologische Konsequenzen.

Entgegen vielen Erwartungen prägen heute die vergleichbaren wirtschaftlichen Probleme und das gemeinsame historische Erbe der DDR stärker das Selbstbild vieler Einwohner Mitteldeutschlands als die Identifikation mit einem Bundesland. So hat sich in den letzten Jahren trotz Standortkonkurrenz eine Situation entwickelt, die eher auf eine Wiederbelebung alter Strukturen - deutlich gefördert durch die politischen Erfolge der PDS - herausläuft. Die neuen Bundesländer haben damit ihre ernsthafte Bewährungsprobe erst noch zu bestehen. 


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